Full text: Deutsche Dichtung in der Neuzeit (Abt. 2)

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an. Der Augenblick, wo die Prophezeiung Rosko's in Erfüllung gehen 
sollte, nahte heran. Die Wölfe, ermuthigt durch das Licht des Tages, klet¬ 
terten bis zu zwanzig auf das Dach, welches unter ihrem Gewichte zusam¬ 
menzubrechen drohte. Aninia schlief noch immer, und ich dankte Gott. In 
dieser äußersten Noth, als schon jede Hoffnung verloren schien, fiel plötzlich 
ein Schuß, noch einer, wieder einer, bis gegen fünfzig; lautes Jagdgeschrei 
und Hundegebell traf unsere Ohren. Die Frauen fuhren aus dem Schlafe 
empor; die Wölfe aber sprangen von dem Dache herab und liefen heulend 
davon. 
Rosko riß hastig die Thüre auf und rief voller Freuden: „Die Wölfe 
sind schon weit fort, und die Jäger trete:: aus dem Walde." 
Wir eilten zur Thüre. Die Freiheit war uns zurückgegeben und mit ihr 
der Genuß des Lebens. Die Wonne des Daseins rann durch unsere Adern 
und wir athmeten mit Entzücken die frische Luft ein. 
Wir sahen jetzt unsern Befreier an der Spitze einer Menge Jäger er¬ 
scheinen; es war Leo v. M., der Bräutigam meiner Schwester. 
Wer konnte diesen Augenblick beschreiben! Ich war außer mir; ich um¬ 
schlang ihn mit meinen Armen, trunken vor Freude, denn ich sah meine ge¬ 
liebte Schwester gesund und wolbehälten an meiner Seite. Mit dankbarem 
Lächeln reichte sie Leo die Hand, die dieser an die Lippen preßte. Während 
seine Jagdgenossen die Wölfe verfolgten, theilten wir ihm mit, was wir ge¬ 
litten hatten, und er erzählte uns dagegen, wie es kam, daß er zu rechter 
Zeit zu unserer Hülfe erschien. 
In dem Schlosse meines Oheims, wo er sich zugleich mit uns zum Be¬ 
suche befand, hatte sich gleich nach unserer Abreise die Nachricht verbreitet, daß 
eine große Herde Wölfe ans Lithauens endlosen Wäldern hervorgebrochen sei 
und die Gegend erreicht habe, durch die wir mußten; mehrere Unglücksfälle 
seien schon vorgekommen, und die Bewohner der Umgegend vereinigten sich zu 
einem großen Treibjagen. Die größte Unruhe bemächtigte sich seiner; er ver¬ 
sammelte sogleich alle Leute, die ein Gewehr führen konnten, und brach in 
eben dem Augenblicke auf, als auch andere Gutsbesitzer mit ihren Jägern ein¬ 
trafen. Diese wollten die Jagd erst am folgenden Tag beginnen; aber Leo 
ließ sich durch nichts abhalten, und seine Beredsamkeit bestimmte auch die An¬ 
dern, das Treiben sofort zu beginnen. „So, meine theuren Freunde," schloß 
er seine Erzählung, „war ich so glücklich, zu eurer Rettung beitragen zu können." 
Theod. Dielitz. 
21. Farrtakus. 
Cautalus, ein Sohn des Zeus, herrschte zu Sipylus in Phrygien und 
war außerordentlich reich und berühmt. Wenn je einen sterblichen Mann die 
olympischen Götter geehrt haben, so war es dieser. Seiner hohen Abstammung 
wegen wurde er zu ihrer vertrauten Freundschaft erhoben, zuletzt durfte er an 
der Tafel Jupiters speisen und Alles mit anhören, was die Unsterblichen 
unter sich besprachen. Aber sein eitler Menschengeist vermochte das überirdische 
Glück nicht zu tragen, und er fing an, mannigfaltig gegen die Götter zu 
freveln. Er verrieth den Sterblichen die Geheimnisse der Götter; er entwen¬ 
dete von ihrer Tafel Nektar und Ambrosia und vertheilte den Raub unter 
seine Genossen; er barg den köstlichen goldenen Hund, den ein Anderer aus 
dem Tempel Jupiters zu Kreta gestohlen hatte, und als dieser ihn zurück¬ 
forderte, läugnete er mit einem Eide ab, ihn erhalten zu haben. Endlich lud 
er im Uebermuthe die Götter wieder zu Gaste, und um ihre Allwissenheit auf
	        
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