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II. 12. Herder:
und Majestät fühlte; Parteigeist, Üppigkeit und Sklaverei ver¬
tilgten bald die schöne, dem Staat minder wesentliche Blüte.
Wehe also uns, wenn der Wunsch unserer Grammatiker einträfe, die von
keinen Mustern der Geschichte des Geschmacks, als von den gewöhnlich
stgurierenden römischen Zeitaltern, dem goldenen, silbernen, ehernen u. dergl.
wissen. Des völlig Zufälligen, das nie wieder kommen kann, zu geschweigen,
weissagen sie uns damit eine schleunige Verderbnis, Pestilenz und Tod auf den
Rücken; das ihnen denn freilich nichts thäte, sobald man dabei nur Latein spräche.
25 IH. Im neueren Europa ist man gewohnt, Leo dem Zehnten und
den Medicis die Wiederherstellung des guten Geschmacks zuzuschreiben, und
nichts ist wahrer, als dies, wenn man dabei nur Genie und Geschmack
unterscheidet. Die Genies, die die italienische Sprache in Dicht¬
kunst und Prosa gebildet hatten, hatten auf die Medici nicht gewartet;
sie hatten in trübseligen Zeiten das Werk ihres Berufs gethan, und auch
noch zu Leos Zeiten wurde nicht Ariost, das große Genie, sondern die
Lustigmacher und lateinischen Nachahmer belohnt. Da nun bekanntermaßen
die Wiederhersteller der Wissenschaften und Künste, Lorenzo von Medici,
Polizian, Bembo, Casa, selbst der große Michael Angelo, da Vinci
u. s. w. allesamt Petrarchisten, und zwar zuin Teil mit unter den mittel¬
mäßigen Cinquecentisten waren; so sieht man, die Wiederherstellung
des guten Geschmacks hatte längst im Verborgenen gearbeitet,
ehe diese sogenannte goldene Zeit kam. Petrarca, Dante, Boccaccio,
Cimabue, Giotto hatten längst gewirkt; auch war in allen dunkeln
Zeiten das Schone und die Kunst nicht so ganz weggewesen von
der Erde, wie man oft wähnt; aber die Mischung der barbarischen
Ideen hatte sich zu tief und zu weit verbreitet, als daß sie plötz¬
lich verschwinden konnte. Der Strom des guten Geschmacks floß hinter
einer so tiefen Vorburg unter der Erde, daß er erst nach vielen vergeblichen
kleinen Ausbrüchen im ganzen vorstreben konnte, als es das Schicksal wollte.
Und auf diesen Zeitpunkt, da Griechenland wieder nach Italien
kam, trafen die Medici, und machten, von dem, was in den dunkeln
Jahrhunderten gesäet war, Ernte.
26 Weiß man also, was der Geschmack des Zeitalters war? woraus
er sich bildete, neu bildete, wonach er strebte, so weiß man zugleich
die Ursachen seines Verfalls. Die unvollkommene Genesis selbst
schloß diese schon in sich.
27 Mau fand die Alten wieder, reinigte und glättete nach ihrem
Muster die Sprache, ahmte ihren Vortrag und ihre Kunst nach
— eine schone, beneidenswerte Periode! Nur das feine, scharfsinnige, unter