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II. 19. Jacob Grimm:
bestimmt, den Jdeengang zu vervielfachen und zu beleben. Von dein sich ewig
erneuernden, wechselnden Menschengeschlecht wird der köstliche allen dargebotene
Erwerb auf die Nachkommen übertragen und vererbt, ein Gut das die Nach¬
welt zu erhalten, zu verwalten und zu mehren angewiesen ist. Denn hier greifen
Lernen und Lehre unmittelbar und unvernterkt ineinander. Die ersten
Worte vernimmt der Säugling an der Mutterbrust von der weichen und
sanften Mutterstimme ihm entgegen gesprochen, und sie schmiegen sich fest in sein
reines Gedächtnis, bevor er noch der eignen Sprechorgane mächtig geworden
ist, darum heißt sie die Muttersprache und so erfüllt sich mit den Jahren
in schnell erweiterten Kreisen ihr Umfang. Sie allein vermittelt uns am
unvertilgbarsten Heimat und Vaterland, und was von den einzelnen Ge¬
schlechtern und Stämmen, die gleiche Spracheigenheit eingedrückt empfangen,
muß weiterhin von der ganzen menschlichen Gesellschaft gelten. Ohne Sprache,
Dichtkunst und die zur rechten Zeit sich eingestellten Erfindungen der Schrift
und des Bücherdrucks würde die beste Kraft der Menschheit sich verzehrt
haben und ermattet sein. Auch die Schrift hat man die Götter den Men¬
schen weisen lassen wollen; doch ihr überzeugend menschlicher Ursprung, ihre
wachsende Vollkommenheit inuß, wenn es nötig wäre, den Erweis des mensch¬
lichen Ursprungs der Sprache bestätigen und vollführen.
7 Herodot meldet uns, Psammetich der Ägypter König, um zu versuchen,
welches Volk und welche Sprache zuerst erschaffen morden sei, habe zwei
neugeborene Kinder einem Hirten einsam aufzuziehen gegeben, mit Befehl kein
Wort vor ihren Ohren nuszusprechen und zu achten, welchen Laut sie nun
hervorbringen würden. Nach einiger Zeit Verlauf, als der Hirt diesen Kindern
sich genähert, hätten sie mit ausgestreckten Händen ßsxog ausgerufen, und
dann öfter dasselbe Wort in Gegenwart des Königs wiederholt. Aus an¬
gestellte Erkundigung sei man aber gewahr geworden, daß die Phryger das
Brot ßexög nennen und habe dadurch die Überzeugung gewonnen, daß die
Phryger das älteste Volk der Erde seien (Herod. II, 2).
8 Wäre es möglich, denn die ganze Erzählung klingt höchst abenteuerlich,
einen solchen Versuch jemals anzustellen und in der Weise durchzuführen,
daß man neugeborne Kinder grausam auf eine abgelegene Insel aussetzen
und von stummen Dienern großziehen ließe; so würde man zwar keine Worte
der ältesten Menschensprache, die ihnen ja durchaus nicht angeboren sein
konnte, vernehmen, wohl aber hätten diese elenden dem menschlichen Erbteil
entrissenen Geschöpfe mit ihrem erwachenden Denkvermögen von vorn an
beginnend gleich den ersterschaffenen Menschen eine Sprache sich zu erfinden,
und falls ihre Abgeschiedenheit andauern könnte, auf ihre Nachkommen
sortzupflanzen. Nur um so teuern Preis, was jedoch nie solange die Erde