Ursprung der Sprache.
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eingeschlagen. Halten wir die gotische Sprache des vierten Jahrhunderts
gegen unsere heutige, dort ist Wohllaut und schöne Behendigkeit, hier, auf
Kosten jener, vielfach gesteigerte Ausbildung der Rede. Überall erscheint die
alte Gewalt der Sprache in dem Maße gemindert als etwas anderes an die
Stelle der alten Gaben und Mittel getreten ist, dessen Vorteile auch nicht
dürfen unterschätzt werden.
Beide Richtungen stehen einander keineswegs schroff entgegen und alle 15
Sprachen erzeigen sich auf mannigfaltigen, ähnlichen aber ungleichen Stufen.
Die Formabnahme hat z. B. auch im Gotischen oder Lateinischen bereits
begonnen und für die eine wie die andere Sprache darf man eine voraus¬
gegangene ältere und reichere Gestalt ansetzen, die sich zu ihrem klassischen
Bestand verhält wie dieser etwa zum Neuhochdeutschen oder Französischen. An¬
ders und allgemein ausgedrückt, ein erreichter Gipfel der förmlichen Vollen¬
dung alter Sprache läßt sich historisch gar nicht feststellen; so wenig die
ihr entgegengesetzte geistige Sprachausbildung heute auch schon zum Abschluß
gelangt ist, sie wird es noch unabsehbar lange Zeit nicht sein. Es ist zu¬
lässig selbst dem Sanskrit voraus noch einen älteren Sprachstand zu be¬
haupten, in welchem die Fülle seiner Natur und Anlage wiederum reiner aus¬
geprägt gewesen wäre, die geschichtlich wir gar nicht mehr erreichen, aus dem
Verhalt der vedischen Sprachform zur späteren ahnen.
Ein verderblicher Fehler würde aber sein, und er scheint mir gerade bei 16
Untersuchung der Ursprache hemmend eingewirkt zu haben, jene Vollendung
der Form noch höher und bis in ein vermeintes Paradies zurück zu verlegen.
Vielmehr ergiebt der beiden letzteren Sprachperioden Aneinanderhalten, daß wie
an den Platz der Flexion eine Auflösung derselben getreten sei, so auch die
Flexion selbst aus einem Verband analoger Wortteile einmal erst entsprungen
sein müsse. Notwendig demnach sind drei, nicht bloß zwei Staffeln der Ent¬
wickelung menschlicher Sprache anzusetzen, des Schaffens, gleichsam Wach¬
sens und Sichaufstellens der Wurzeln und Wörter, die andere des Empor-
blühens einer vollendeten Flexion, die dritte aber des Triebs zum Gedanken,
wobei die Flexion als noch nicht befriedigend wieder fahren gelassen und was im
ersten Zeitraum naiv geschah, im zweiten prachtvoll vorgebildet war, die Ver¬
knüpfung der Worte und strengen Gedanken abermals mit hellerem Bewußtsein
bewerkstelligt wird. Es sind Laub, Blüte und reifende Frucht, die, wie es die
Natur verlangt, in unverrückbarer Folge neben- und hintereinander eintreten.
Durch die bloße Notwendigkeit einer ersten unsichtbaren, den beiden andern
für uns sichtbaren Perioden vorausgegangenen wird, dünkt mich, der Wahn
eines göttlichen Ursprungs der Sprache ganz beseitigt, weil es Gottes Weis¬
heit widerstritte dem, was eine freie Menschengeschichte haben soll, im voraus
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