Full text: Deutsches Lesebuch für Prima

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III. 33. Bernays: 
geworfen, warum doch, wenn beide Wörter begrifflich gleichgelten, Aristoteles 
nicht lieber das von der Rhetorik her für „Mitleid und Furcht" zuerst sich 
darbietende nadwv gewählt hat. — Endlich übersetzt Lessing xdöuQGcg mit 
„Reinigung" ; worin die „Reinigung" bestehe, will er „nur kurz sagen", 
wahrend doch bei diesem Hauptpunkte jedermann, auch „die der Sache 
Gewachsenen" an die Lessing bei einer verwandten Frage (St. 83) 
appelliert, eine ausführlichere Darlegung und Begründung gerne gesehen hätten, 
zumal da die näheren Bestimmungen über Katharsis, welche dem Aristoteles 
selbst unentbehrlich schienen und die er im achten Buch der Politik für die 
Poetik aufsparen zu wollen erklärt, jetzt in unserer Poetik vergebens gesucht 
werden. Lessings Erläuterung nun ist diese (St. 78): 
„Da, es kurz zu sagen, diese Reinigung in nichts anders beruht, 
als in der Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, 
bei jeder Tugend aber, nach unserem Philosophen, sich diesseits und 
jenseits ein Extremum findet, zwischen welchen sie inne steht: so muß 
die Tragödie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns 
von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen vermögend sein; welches 
auch von der Furcht zu verstehen. Das tragische Mitleid muß nicht 
allein, in Ansehung des Mitleids, die Seele desjenigen reinigen, welcher 
zu viel Mitleid fühlt, sondern auch desjenigen, welcher zu wenig 
empfindet. Die tragische Furcht muß nicht allein, in Ansehung der 
Furcht, die Seele desjenigen reinigen, welcher sich ganz und gar keines 
Unglücks befürchtet, sondern auch desjenigen, den ein jedes Unglück, 
auch das entfernteste, auch das unwahrscheinlichste in Angst setzt. Gleich¬ 
falls muß das tragische Mitleid in Ansehung der Furcht dem was zu 
viel und dem was zu wenig steuern: sowie hinwiederum die tragische 
Furcht in Ansehung des Mitleids." 
Man muß gestehen, ist dem Aristoteles eine solche „Verwandlung der 
Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten" wesentliche Bestimmung der 
Tragödie — und sie wäre es ihm doch, wenn er die Katharsis in solcher 
Bedeutung einer Definition des Wesens (oQog xrjg ovöiag) einverleibt —: 
so ist ihm auch die Tragödie wesentlich eine moralische Veranstaltung; 
ja, nach der Lessingschen Durchführung durch alle Stufen des zu vielen und 
zu wenigen Mitleidens und Fürchtens, dürfte man die Tragödie ein moralisches 
Korrektionshaus nennen, das für jede regelwidrige Wendung des Mitleids 
und der Furcht das zuträgliche Besserungsverfahren in Bereitschaft halten 
müsse. Begreiflicherweise konnte sich mit einer solchen Auffassung niemand 
weniger befreunden als der vom Alter verklärte, die Teleologie aus seinen 
Ansichten über Natur und Kunst immer bewußter entfernende Goethe. „Die
	        
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