322
III. 33. Bernays:
geworfen, warum doch, wenn beide Wörter begrifflich gleichgelten, Aristoteles
nicht lieber das von der Rhetorik her für „Mitleid und Furcht" zuerst sich
darbietende nadwv gewählt hat. — Endlich übersetzt Lessing xdöuQGcg mit
„Reinigung" ; worin die „Reinigung" bestehe, will er „nur kurz sagen",
wahrend doch bei diesem Hauptpunkte jedermann, auch „die der Sache
Gewachsenen" an die Lessing bei einer verwandten Frage (St. 83)
appelliert, eine ausführlichere Darlegung und Begründung gerne gesehen hätten,
zumal da die näheren Bestimmungen über Katharsis, welche dem Aristoteles
selbst unentbehrlich schienen und die er im achten Buch der Politik für die
Poetik aufsparen zu wollen erklärt, jetzt in unserer Poetik vergebens gesucht
werden. Lessings Erläuterung nun ist diese (St. 78):
„Da, es kurz zu sagen, diese Reinigung in nichts anders beruht,
als in der Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten,
bei jeder Tugend aber, nach unserem Philosophen, sich diesseits und
jenseits ein Extremum findet, zwischen welchen sie inne steht: so muß
die Tragödie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns
von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen vermögend sein; welches
auch von der Furcht zu verstehen. Das tragische Mitleid muß nicht
allein, in Ansehung des Mitleids, die Seele desjenigen reinigen, welcher
zu viel Mitleid fühlt, sondern auch desjenigen, welcher zu wenig
empfindet. Die tragische Furcht muß nicht allein, in Ansehung der
Furcht, die Seele desjenigen reinigen, welcher sich ganz und gar keines
Unglücks befürchtet, sondern auch desjenigen, den ein jedes Unglück,
auch das entfernteste, auch das unwahrscheinlichste in Angst setzt. Gleich¬
falls muß das tragische Mitleid in Ansehung der Furcht dem was zu
viel und dem was zu wenig steuern: sowie hinwiederum die tragische
Furcht in Ansehung des Mitleids."
Man muß gestehen, ist dem Aristoteles eine solche „Verwandlung der
Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten" wesentliche Bestimmung der
Tragödie — und sie wäre es ihm doch, wenn er die Katharsis in solcher
Bedeutung einer Definition des Wesens (oQog xrjg ovöiag) einverleibt —:
so ist ihm auch die Tragödie wesentlich eine moralische Veranstaltung;
ja, nach der Lessingschen Durchführung durch alle Stufen des zu vielen und
zu wenigen Mitleidens und Fürchtens, dürfte man die Tragödie ein moralisches
Korrektionshaus nennen, das für jede regelwidrige Wendung des Mitleids
und der Furcht das zuträgliche Besserungsverfahren in Bereitschaft halten
müsse. Begreiflicherweise konnte sich mit einer solchen Auffassung niemand
weniger befreunden als der vom Alter verklärte, die Teleologie aus seinen
Ansichten über Natur und Kunst immer bewußter entfernende Goethe. „Die