412
IV. 40. von Clausewitz:
54 Diese höchst eigentümliche Schwierigkeit muß eine eigentümliche Geistes¬
anlage besiegen,, welche, mit einem zu beschränkten Ausdruck, der Ortssinn
genannt wird. Es ist das Vermögen, sich von jeder Gegend schnell eine
richtige geometrische Vorstellung zu machen, und als Folge davon sich in
ihr jedesmal leicht zurechtzufinden. Offenbar ist dies ein Akt der Phan¬
tasie. Zwar geschieht das Auffassen dabei teils durch das körperliche Auge,
teils durch den Verstand, der mit seinen aus Wissenschaft und Erfahrung ge¬
schöpften Einsichten das Fehlende ergänzt und aus den Bruchstücken des körper¬
lichen Blicks ein Ganzes macht; aber daß dies Ganze nun lebhaft vor die
Seele trete, ein Bild, eine innerlich gezeichnete Karte werde, daß dies Bild
bleibend sei, die einzelnen Züge nicht immer wieder auseinanderfallen, das
vermag nur die Geisteskraft zu bewirken, die wir Phantasie nennen. Wenn
ein genialer Dichter oder Maler sich verletzt fühlt, daß wir seiner Göttin
eine solche Wirksamkeit zumuten, wenn er die Achseln zuckt, daß ein findiger
Jägerbursche darum eine ausgezeichnete Phantasie haben solle, so wollen wir
gern einräumen, daß nur von einer sehr beschränkten Anwendung, von einem
wahren Sklavendienst derselben die Rede ist. Aber wie wenig dies auch sei,
es muß doch von dieser Naturkraft entnommen werden, denn wenn sie ganz
abgeht, dann wird es schwer werden, sich die Dinge in ihrem Formen-
zusammenhange bis zur Anschauung deutlich vorzustellen. Daß ein gutes Ge¬
dächtnis dabei sehr zu Hilfe komme, räumen wir gern ein; ob aber das Ge¬
dächtnis dann als eine eigene Seelenkraft anzunehmen ist, oder ob es eben
in jenem Vorstellungsvermögen liegt, das Gedächtnis für diese Dinge besser
zu fixieren, müssen wir um so mehr unausgemacht lassen, als es überhaupt
schwer scheint, diese beiden Seelenkräfte in manchen Beziehungen getrennt
zu denken.
55 Daß Übung und Verstandeseinsicht dabei sehr viel thun, ist nicht zu
leugnen. Puisegur, der berühmte Generalquartiermeister des berühmten
Luxemburg, sagt, daß er sich anfangs in diesem Punkt wenig zugetraut, weil
er bemerkt, daß, wenn er die Parole weit zu holen gehabt, er jedesmal den
Weg verfehlt habe.
56 Es ist natürlich, daß auch die Anwendungen dieses Talents sich nach
oben hin erweitern. Müssen der Husar und Jäger bei Führung einer Pa¬
trouille in Weg und Steg sich leicht finden, und bedarf es dafür immer nur
weniger Kennzeichen, einer beschränkten Auffassungs- und Vorstellungsgabe, so
muß der Feldherr sich bis zu den allgemeinen geographischen Gegenständen
einer Provinz und eines Landes erheben, den Zug der Straßen, Ströme und
Gebirge immer lebhaft vor Augen haben, ohne darum den beschränkten Orts¬
sinn entbehren zu können. Zwar sind ihm für die allgemeinen Gegenstände