Full text: [Teil 7 = (Für Prima)] (Teil 7 = (Für Prima))

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wie gänzlich wirkungslos die schönsten, aus allgemeine Theorie gebauten Reden 
an ihm abprallten. Derartiges machte so wenig Eindruck aus ihn, als wenn 
die Betressenden chinesisch gesprochen hätten, während ein einziges praktisches 
Beispiel, zumal ein solches aus der Sphäre seiner Lebenserfahrung, ihn sofort 
überzeugte. Die praktische Erfahrung war ihm alles; in der Theorie sah er 
nie summierte Erfahrung, sondern wertlose Abstraktion, irrende Spekulation. 
Er hielt eben deshalb nie an irgendeiner Theorie und Meinung starr fest; 
das praktische Leben und seine Beobachtung änderte und modelte seine Über¬ 
zeugungen bis ins Alter immer wieder um. Es gab wohl keinen zweiten 
Mann in Europa, der über einen solchen Reichtum von Beobachtungen und Er¬ 
fahrungen verfügte; denn wer kannte wie er, fast alle Länder Europas, ihre 
Regenten und Minister, ihre leitenden Kreise; wer hatte so offenen Auges 
(trotz seiner Kurzsichtigkeit und des früh gebrauchten Lorgnons) alle denk¬ 
baren Zustände, Sitten, Institutionen, alle Spielarten des Volkscharakters, 
des Klassengeistes so beobachtet? — Das ermöglichte ihm nun eben, stets rasch 
jede neue Erfahrung in den Schatz des Vorhandenen einzufügen, Menschen 
und Verhältnisse richtig zu beurteilen und entsprechend zu handeln. Ein 
starkes Selbstbewußtsein und eine stets schlagfertige, oft mehr durch genialen 
Instinkt als Überlegung geleitete Entschlußsertigkeit machten ihn dann zu 
dem handelnden Staatsmann, der in zwei Minuten erledigte, worüber seine 
Ministerkollegen tagelang gesessen, ohne zu einem Entschluß zu kommen. Daß 
ihn das niederdrückende Gepäck aller wissenschaftlichen Gründe pro et eoritrn 
gar oftmals nicht beschwerte, ließ ihn da und dort wohl mal irren, aber er¬ 
leichterte ihm anderseits alles Handeln unendlich. Und vor allem das praktische 
Maßhalten, das dem bloßen Mann der Feder und der Schreibstube so oft ab¬ 
geht, das gelang ihm spielend, weil er so ganz in der Welt der praktischen Er¬ 
fahrung lebte. Es will mir auch scheinen, daß, wo er als Staatsmann fehlte, 
es aus dem Gebiete gewesen sei, in dem er nur unvollkommene Erfahrung be¬ 
saß, so z. B. in der Behandlung der katholischen Kirche und in einem Teil der 
Arbeiterfrage. 
Aus seinen Willens- und Gemütskrästen, wie aus der Art seines Ver¬ 
standes und seiner Bildung ging die energische, impetuose Art seines Handelns 
hervor. Sie läßt sich als ein ununterbrochener Kampf bezeichnen, den er aber 
immer wieder ans bestimmte Punkte und Personen, Institutionen und Staaten 
zu beschränken wußte, der immer das Ziel verfolgte, zu Friedensschlüssen, zu 
höheren, besseren Formen des politischen Lebens zu kommen, das nationale 
Dasein zu befestigen und auszugestalten. 
Hatte er schon als Student, als Mitglied der Stände, als Journalist 
vor allem von seiner kühnen, streitbaren Seite sich gezeigt, so wurde er in 
Frankfurt der Hecht im Karpfenteich, der die stillen Wasser der Eschenheimer 
Gasse zum Schrecken der Hofburg triibte. Und doch galt er hier, wie auf seinem 
späteren Gesandtschaftsposten, als der unwiderstehlich liebenswürdige Gesell¬ 
schafter und Causeur, als der Liebling der Frauen wie der Männer, der Fürsten 
Lehmann, Teutsches Lesebuch sür höhere Lehranstalten, VII. Teil. 10
	        
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