Full text: Für Ober-Sekunda und Prima (Prosah. 7)

F. Rosiger, Das Dreigestirn der attischen Tragödie. 
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gegen die Maulhelden der Demagogie bestimmten zuweilen unzweideutig 
die Tendenz seiner Dramen. Die Verzweiflung hat ihn gegen Ende 
des peloponnesischen Krieges aus Athen fortgetrieben, der makedonische 
König Archelaos rief die glänzenden Persönlichkeiten der athenischen 
Bildung an seinen Hof, wo sie als Ersatz für die zügellose Redefreiheit der 
Heimat die Bosheiten höfischer Intrige finden mußten. Für den König 
schrieb er ein makedonisches Drama zur Verherrlichung des Grütiders 
der Dynastie, fühlte aber auch sonst zu frischem Schaffen sich angeregt. 
Doch starb er schon eineinhalb Jahre nach seiner Ankunft; molossische 
Hunde sollen ihn zerrissen haben. Dies Ende gab wohl nur ein 
fabelnder Literarhistoriker dem athenischen Dichter. 
Nur langsam gewann Euripides beim Publikum Boden, von den 
92 Stücken, die er geschrieben haben soll, errangen nur wenige den 
Preis. Aber allmählich ward er der Lieblingsdichter des heranwachsenden 
Geschlechtes, seine Sentenzen waren in aller Munde, die gefangenen 
Athener in Sizilien konnten sich retten, wenn sie den Feinden Stücke 
aus seinen Dramen vortrugen. Keiner der griechischen Dichter nächst 
Homer und Menander ist soviel zitiert worden wie er, so sehr fand man 
in ihm den Ausdruck der geistigen Kultur, die Griechenland im Laufe 
der Jahrhunderte erreicht hatte. Auch er behandelte für seine Tragödien 
den fast unerschöpflich reichen Stoff der Heldensage, und er hatte die 
Aufgabe, ihr neue Seiten abzugewinnen oder für die alten Probleme 
eine neue interessante Lösung zu finden. Aber das Verhältnis des 
Dichters wie des Publikums zum Stoff war ein anderes geworden. 
Die erhöhte Stimmung war verschwunden, welche in den weihevollen 
Stunden des Dionysosfestes die Gestalten einer Übermenschenwelt in 
sich aufnahm; die Seelen waren beschäftigt mit dem, was der Markt 
und der Tag brachte. Die Leidenschaften, die verzehrende Unruhe und 
die Konflikte, die an den wirklichen Menschen zu beobachten waren, 
nahmen das Interesse mehr in Anspruch als die ideal geträumten Heroen 
der Vorzeit, denen im Leben so gar nichts entsprach. Diese müssen es 
sich gefallen lassen, daß sie zu Spiegelbildern der Gegenwart werden. 
Die Könige verlieren den kraftvollen Adel ihrer Heldennatur, sie werden 
oft kläglich schwankende Charaktere, und neben ihnen steht das souveräne 
Volk, das mit besonderer Kunst und Vorsicht gelenkt sein will und leicht 
zur Empörung übergeht. Die Thersites werden nicht mehr mit Prügeln 
zur Raison gebracht, sondern haben die Leitung der Dinge in den 
Händen. Orestes, der seinen Muttermord vor dem Volksgericht ver¬ 
antworten soll, sinkt znm gemeinen Verbrecher herab, und ein schreiender 
Widerspruch kommt dadurch in den Mythus, dem die Blutrache noch 
eine heilige Pflicht, ein anerkanntes Gebot der Gottheit war. Orestes 
ist fest überzeugt, daß Agamemnon die Tötung der Klytämnestra nicht 
gewünscht hätte, wenn man ihn hätte fragen können; aber er vollzieht
	        
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