Full text: Für Ober-Sekunda und Prima (Prosah. 7)

F. Paulsen, Das religiöse Bedürfnis des Menschen. 
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Weisung auf ein Höheres, dessen Werk und Offenbarung sie ist, auffaßt. 
Sinnende Vertiefung in die Werke des Geistes, in die Schöpfungen der 
Kunst und Dichtung, in das Leben großer und guter, tapferer und 
heiliger Menschen erfüllt das Herz mit den Gefühlen des Schönen und 
Erhabenen, der Bewunderung und Verehrung, und auch diesen Gefühlen 
ist es eigen, ihm die Richtung nach oben zu geben auf ein Allgutes 
und Vollkommenes, dessen Abglanz alles Schöne und Gute auf Erden 
ist. Das ist Goethes Religion: 
In unseres Busens Reine wogt ein Streben, 
Sich einein Höhern, Reinern, Unbekannten 
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben, 
Enträtselnd sich dein ewig Ungenannten; 
Wir heißen's fromm sein! 
Eine dritte Wurzel der religiösen Empfindung ist die Euttäuschuug 
und Weltmüdigkeit. In den Erlösungsreligionen tritt diese Seite stark 
und deutlich hervor. Das Leben und die Welt hielten nicht, was sie 
dem jugendlich Hoffenden versprachen; bittere Enttäuschung, grimmige 
Reue nagt am Herzen, da rettet es sich vor Verzweiflung und Lebens- 
ekel durch die Flucht aus dieser Welt zu einer besseren Welt, wirft es 
sich, fliehend vor der Härte und Selbstgerechtigkeit, der Gemeinheit und 
Falschheit der Menschen, an Gottes Herz. In aller idealistischen Philo¬ 
sophie ist etwas von dieser Empfindung; bei Plato, bei Fichte klingt sie 
an. Die Entrüstung über die Welt und die Menschen, wie sie sind, 
treibt die Behauptung hervor: diese Welt ist gar nicht die wirkliche Welt, 
sie kann es nicht sein, sie ist zu gering dazu; es gibt, es muß geben 
eine reinere, höhere Welt jenseits dieses Dunstkreises der Sinnlichkeit. 
— Wem bliebe diese Empfindung ganz fremd? Etwas von dem con- 
temtus mundi, der im Christentum so stark hervortritt, empfindet wohl 
jedes höher gestimmte Gemüt. Die Menschen sind nicht, wie kindliches 
Vertrauen sie voraussetzte; hinter dem schönen Schein, mit dem sie sich 
zu umgeben wissen, verbirgt sich gemeines Streben und niedrige Ge¬ 
sinnung; mit dem Schönen und Guten ist es ihnen kein Ernst, kleine 
Zwecke und niedrige Absichten verfolgen sie selbst und setzen sie bei 
anderen voraus; das Große und Vortreffliche erfüllt sie mit Neid, ernste 
und große Bestrebungen erwecken bei ihnen Mißtrauen und Haß, und 
ein unbarmherziges Gericht ergeht über den, der nicht mit ihnen das 
Kleine groß, das Falsche echt, den Schein Wahrheit nennen will. Da 
wendet sich das Herz mit Trauer und Entrüstung ab und beruft sich 
von dem Gericht der Menschen auf einen höheren und gerechteren Richter; 
sich Gottes getrosten und nicht auf eitle und bestechliche Menschen, nicht 
auf die ersatura fallax bauen, wird das Gesetz seines Lebens. Es ist 
auf Erden nichts Großes geschehen, wo nicht von dieser Empfindung 
etwas lebendig war. — Und welchem Leben bliebe eine andere Ent¬
	        
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