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Prosaheft VIL
Wenn über schroffen Fichtenhöhen
Der Adler ausgebreitet schwebt,
Und über Flächen, über Seen
Der Kranich nach der Heimat strebt.
In diesem Sinne ist Religion mit Philosophie, Glauben mit freie¬
stem Denken vereinbar. Religion fordert nicht, zu denken, was nicht
gedacht werden kann, sondern zu glauben, was dem Gemüt, dem Willen
entspricht, dem Denken nicht widerspricht.
3. Schkeiermachers Auffassung von der Iletigion.
Otto Kirn. Aus: Unsere religiösen Erzieher, eine Geschichte des Christentums
in Lebensbildern, Hrsg. v. B. Beß. (Leipzig, Verlag von Quelle u. Meyer, 1908.)
Nach einer kürzeren pädagogischen Tätigkeit in Berlin und einem
längeren Wirken als Hilfsprediger trat Schleiermacher 1796 die Stel¬
lung als Chariteprediger in Berlin an. Die sechs Jahre, die er in ihr
verlebte, wurden für seine Entwickelung epochemachend, sofern sie ihn in
die engste Berührung mit dem geistigen Ringen der 'Zeit brachten und ihn
seinen Beruf erkennen ließen, ihr Bildungsstreben durch ein Zeugnis von
der Herrlichkeit der Religion zu vertiefen.
Eine neue Richtung begann in der deutschen Literatur sich durch¬
zusetzen und auszubreiten, die romantische Schule. Sie teilte mit allen
poetisch gestimmten Gemütern den Gegensatz gegen die Aufklärung, auf
deren Nüchternheit und Seichtigkeit sie vornehm herabsah. Aber auch
mit dem Klassizismus der großen Dichter war sie nicht zufrieden. Deren
Anlehnung an die Antike galt ihr gleichfalls als eine Rückkehr in aus¬
gefahrene Geleise. Nicht in kalter Ruhe und streng gemessener Form,
sondern iin bunten Glanz und regellosen Spiel der Phantasie erblickte
sie das Siegel echter Dichtung. Ganz frei sollte die Kunst werden,
volkstümlich deutsch, modern, gemütvoll. Nicht typische Gestalten sollte
sie schaffen, sondern individuelles Leben schildern, nicht abgeklärte Weis¬
heit sollte sie predigen, sondern aus den dunklen, aber unermeßlichen
Tiefen des Gemüts schöpfen und vor allem nicht das Geheimnis, das
Irrationale, das Kühne und Titanische aus ihrem Kreis verbannen.
Und nicht bloß die Kunst, auch das Leben sollte von Zwang und
Schablone frei werden. Man wollte gegenüber der langen und mäch¬
tigen Überlieferung des Verstandes und der Sitte das Recht des sub¬
jektiven Gefühls und der individuellen Phantasie zur Geltung bringen.
Man wollte zeigen, daß der Mensch in der inneren Unendlichkeit seines
Gemüts einen unerschöpflichen Quell von Gestalten und Ideen trägt,
und daß er nur den Mut der Originalität zu haben braucht, um sein
Leben zum Kunstwerk zu erheben.
Fr. Schlegel, der begeisterte Apostel der romantischen Ideale, war