Full text: Für Ober-Sekunda und Prima (Prosah. 7)

302 
Prosaheft VII. 
Standpunkt des Bauern stellen, um gerecht urteilen zu können. Allerlei, 
was wir für außerordentlich nötig halten, ist ihm vollständig entbehrlich, 
allerlei, was wir als außerordentlich unbequem empfinden, ist ihm gerade 
bequem. Enge Schlafgelegenheiten, Mangel an frischer Luft, an Hellem 
Tageslicht, Durchräuchern und Schwarzräuchern des Hauses, Ausdün¬ 
stungen des Viehes im Hause, das feuergefährliche Strohdach, Dinge, 
die uns entsetzen, sind oder waren für den Bauer dieser oder jener 
Gegend eben kerne Fehler, wenigstens werden sie seines Erachtens durch 
allerlei Vorzüge der Einrichtungen, welche eben diese widrigen Umstände 
nach sich gezogen haben, reichlich ausgewogen. Die kleinen Stuben mit 
wenigen Lichtöffnungen sind leichter warm zu halten, der Rauch im 
Hanse ist für die erstrebten Winterfleischvorräte unersetzlich, das Ver- 
ränchern des Holzwerkes ist ihm sehr gesund, das Strohdach hält im 
Winter warm und im Sommer kühl u. a. m. — so erwidert er uns 
wohl, wenn wir darüber mit ihm plaudern. Mit Mobiliar und Gerät 
steht es ebenso. Gewisse steife Stühle und Bänke, auf denen wir uns wie 
auf einer Marterbank sitzend vorkommen, sind ihm ganz behaglich, be¬ 
sonders eine steife Rückenlehne stört ihn nicht — er sitzt eben anders 
als wir, vornüber, nicht rückwärts gelehnt. Für die Truhe, die wir in 
der Stadt nicht gut brauchen können, hat er treffliche Verwendung. 
Allerlei Geschirr, das uns ungefüge, unverwendbar, grob scheint, paßt 
ihm ausgezeichnet, allerlei Bequemlichkeiten des Eßgerätes erscheinen ihm 
gar lächerlich. Allerlei Trachten, die wir mit Grauen sehen, schwere 
Kleiderlasten, erhitzende Kleiderdicke, Bedrückungen des Körpers durch 
Einsperrung in Papphülsen, erregen der Bäurin nicht die Spur von 
Mißbehagen. 
Wenn wir diese andersartigen Anschauungen berücksichtigen, werden 
wir überall durch verständige praktische Lösungen aller Aufgaben erfreut. 
Praktisch in erster Linie ist das Haus in der Ausnützung der ge¬ 
gebenen Bodenverhältnisse, in der Lage zur Sonne, zum Berge, zum 
Orte, in der Fürsorge gegenüber dem Klima, in der Ausnützung des am 
leichtesten erreichbaren und dabei allen Anforderungen nutzbar zu machenden 
Materiales. Praktisch ist es im Grundriß, in der Einteilung. Für 
jeden Zweig seines Betriebes hat der Bauer gesorgt, für sein eigenes 
Wohnen, wie für die Unterbringung seiner Besitztümer, seiner Habe, 
seines Viehes, seiner Ernte, seiner Vorräte usw. Allein aus dem Grund¬ 
riß des Hauses können wir die ganze Betriebsweise seiner Bewohner er¬ 
kennen. Die Art der Lösung ist verschieden — auch innerhalb der Bauern¬ 
bevölkerung weichen die Ansichten über das Praktische voneinander ab. 
Einmal, im niedersächsischen Hause, hat man sich nicht gescheut, mit dem 
Vieh unter einem Dache in patriarchalischem Zusammenleben ungetrennt 
zu wohnen, anderswo hat man zwar ein Dach über sich und dem Vieh, 
aber es ist eine feste Trennung da. Das Vieh ist im Untergeschoß,
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.