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Prosaheft VIT.
gung durchmachen. Und so recht aus der Fülle der Stoa ist geschöpft,
was uns Seneca an einer ewig schönen Stelle sagt: „Diese Spanne
sterblichen Daseins ist ja nur eines besseren, eines längeren Lebens
Vorspiel. Monate lang umfängt uns der Mutterleib und schafft an
uns, nicht für sich, sondern für den Platz, den wir betreten sollen mit
selbsttätigem Atem und mit der Kraft, das offene Dasein zu ertragen:
so reifen wir von der Zeit unserer Kindheit bis zum Greisenalter einer
anderen Geburt entgegen. Ein anderes Werden harrt unser, ein
anderes Wesen der Dinge. Noch ertragen wir den Himmel nur ans
der Ferne: daher blicke festen Auges hin auf die Entscheidungsstunde,
die nur dem Leibe, nicht der Seele die letzte ist. Siehe, rings um dich
liegt nur das Gepäck wie in einer Herberge: vorbei, vorwärts. Jener
Tag, den du mit Grauen deinen letzten nennst, er ist des ewigen Lebens
Geburtstag." Wie lebhaft erinnert uns dies alles an Fechners schöne
Ausführungen im Büchlein „Vom Leben nach dem Tode"!
Das sind Betrachtungen der damaligen Aristokraten der Philo¬
sophie; gewaltig war die daneben wuchernde Kleinliteratur der Erbauungs¬
schriften. Solcher Stücke, Diatriben genannt, sind uns noch viele er¬
halten, mit z. T. höchst banalem Inhalt: über den Reichtum und seine
Verachtung, über den Zorn, den Geiz, das genügsame Leben u. ü.
Denn diese Welt lebt innerlich wie von der Religion so von der Moral.
Es wird eine ganze Kasuistik ausgearbeitet, Lebensregeln für jeden
einzelnen Fall. Diese Literatur dringt, durch die Juden vermittelt,
auch in die urchristlichen Schriften ein und führt sogar noch in späten
Jahrhunderten, wo die Heiden dieses Wesen aufgegeben haben, ihr nicht
sehr erfreuliches Leben weiter.
Aber das Predigen im Auditorium, das Erbauungsbrevier genügten
doch häufig noch nicht dem heißen Begehren der Zeit nach Vereinigung mit
Gott. Es mußte ein Ausgewählter, ein Paraklet, ein Tröster kommen,
übernatürlicher Kräfte teilhaftig, ein Apostel des Höchsten, wie man
diesen Gott sich auch vorstellte. Einen solchen fand man in Apollonios von
Tyana, einem pythagoreischen Weisen. Dieser hat selbstverständlich schon
eine sehr bedeutsame Kindheit; wunderbare Göttererscheinungen umschweben
schon seine Geburt, das fromme, gottgeliebte Kind erhält natürlich nur
eine Scheinerziehung, es überholt bald seine schlechten Lehrer. Früh
empfindet es seine hohe Berufung, es widersteht, seines Gottes voll, aller
bösen Verführung, der Knabe lebt im Tempel, und alle ringsherum
entsetzen sich über ihn und seine Weisheit. Erwachsen zieht er hinaus,
predigt oder prophezeit und tut Zeichen, bald im eigenen Lande, bald
draußen bei fernen Völkern, deren wundersame Sitten er wißbegierig
kennen lernt, mit deren Philosophen er theologische Gespräche und
Disputationen hält. Als Prediger aber wendet er sich oft und dringend
an ganze Gemeinden, sie ob ihrer Sünden scheltend, wie vor diesen,