Full text: Literaturproben zur Geschichte der neuhochdeutschen Literatur (Teil 1)

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Johann Wolfgang Goethe. 
So Vielfach Winckelmann auch in dem Wißbaren und Wissenswerten 
herumschweifte teils durch Lust und Liebe teils durch Notwendigkeit geleitet, 
so kam er doch früher oder später immer zum Altertum, besonders zum 
griechischen zurück, mit beni er sich so nahe verlvandt fühlte und mit dem 
er sich in seinen besten Tagen so glücklich vereinigen sollte. 
ßeidniiehes. 
Jene Schilderung des altertümlichen, auf diese Welt und ihre Güter 
angewiesenen Sinnes führt uns unmittelbar zur Betrachtung, daß dergleichen 
Vorzüge nur mit einem heidnischen Sinne vereinbar seien. Jenes Vertrauen 
auf sich selbst, jenes Wirken der Gegenwart, die reine Verehrllng der Götter 
als Ahnherren, die Bewunderung derselben gleichsam nur aU Kunstwerke, die 
Ergebenheit in ein übermächtiges Schicksal, die in dem hohen Werte des 
Nachruhms selbst wieder auf diese Welt angewiesene Zukunft gehören so not¬ 
wendig zusammen, machen solch ein unzertrennliches Ganze, bilden sich zu 
einem von der Natur selbst beabsichtigten Zustand des menschlichen Wesens, 
daß wir in dem höchsten Augenblick des Genusses wie in dem tiefsten der 
Aufopferung, ja des Untergangs eine unverwüstliche Gesundheit gewahr 
werden. 
Dieser heidnische Sinn leuchtet aus Winckelmauns Handlungen und 
Schriften hervor und spricht sich besonders in seinen frühern Briefen aus, 
wo er sich noch im Konflikt mit neuern Religionsgesinnungen abarbeitet. 
Freundschaft 
Waren jedoch die Alten, so wie wir von ihnen rühmen, wahrhaft ganze 
Menschen, so mußten sie, indem sie sich selbst und die Welt behaglich 
empfanden, die Verbindungen menschlicher Wesen in ihrem ganzen Umfange 
kennen lernen; sie durften jenes Entzückens nicht ermangeln, das aus der 
Verbindung ähnlicher Naturen hervorspringt. 
Auch hier zeigt sich ein merkwürdiger Unterschied alter und neuer Zeit. 
Das Verhältnis zu den Frauen, das bei uns so zart und geistig geworden, 
erhob sich kaum über die Grenze des gemeinsten Bedürfnisses. Das Ver¬ 
hältnis der Eltern zu den Kindern scheint einigermaßen zarter gewesen zu 
sein. Statt aller Empfindungen aber galt ihnen die Freundschaft unter 
Personen männlichen Geschlechtes, obgleich auch Chloris und ThyicB) noch 
im Hades als Freundinnen unzertrennlich sind. 
Die leidenschaftliche Erfüllung liebevoller Pflichten, die Wonne der 
Unzertrennlichkeit, die Hingebung eines für den andern, die ausgesprochene 
Bestimmung für das ganze Leben, die notwendige Begleitung in den Tod 
setzen uns bei Verbindung zweier Jünglinge in Erstaunen, ja man fühlt sich 
]) Sie waren dargestellt auf dem berühmten Gemälde Palygnots in der Lesche in 
Delphi, ?ausan. X, 29.
	        
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