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als Verleiher des Lebens und aller Güter, gemeinsamer Vater der
Menschen und ihr Erhalter und Wächter, also gebildet, wie es je einem
Sterblichen vergönnt war, den unendlichen Gott aufzufassen und nachzu¬
bilden." Aus diesen Urteilen ist auch klar ersichtlich, was die Alten von
ihrer Kunst verlangten: daß sie Geist und Herz über die Leiden des Lebens
erhebe, reinige, stärke, in die Gegenwart Gottes versetze und alle Gefäße
des Denkens so weit ausdehne und mit Licht und göttlicher Freiheit
erfülle, daß darin Zweifel, Angst und Gram fürder nicht wohnen können.
Ernst v. Lasaulx.
Venedig.
1.
Mein Auge ließ das hohe Meer zurücke,
Als aus der Flut Palladios Tempel stiegen,
An deren Staffeln sich die Wellen schmiegen,
Die uns getragen ohne Falsch und Tücke.
Wir landen an, wir danken es dem Glücke,
Und die Lagune scheint zurückzufliegen,
Der Dogen alte Säulengänge liegen
Vor uns gigantisch mit der Seufzerbrücke.
Venedigs Löwen, sonst Venedigs Wonne,
Mit ehrnen Flügeln sehen wir ihn ragen
Auf seiner kolossalischen Kolonne.
Ich steig' ans Land, nicht ohne Furcht und Zagen,
Da glänzt der Markusplatz im Licht der Sonne:
Soll ich ihn wirklich zu betreten wagen?
2.
Dies Labyrinth von Brücken und von Gassen,
Die tausendfach sich ineinander schlingen,
Wie wird hindurchzugeh'n mir je gelingen?
Wie werd' ich je dies große Rätsel fassen?
Ersteigend erst des Markusturms Terrassen,
Vermag ich vorwärts mit dem Blick zu dringen,
Und aus den Wundern, welche mich umringen,
Entsteht ein Bild, es teilen sich die Massen.
Ich grüße dort den Ocean, den blauen,
Und hier die Alpen, die im weiten Bogen
Auf die Laguneninseln niederschauen.
Und sieh! da kam ein mut'ges Volk gezogen,
Paläste sich und Tempel sich zu bauen
Auf Eichenpfähle mitten in die Wogen.
Aug. Graf v. Platen-Hallermünde.