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Hallen selbst, so glaubt man für einen Augenblick von einer heiligen
Totenstille ganz umfangen zu sein. Allein bald gewinnen die hohen
Bögen und die langen Hallen Leben, die Steine gewinnen Sprache und
die wunderbaren Gestalten der Malerei fangen an zu reden. Sie erzählen
uns von fernen, dahingesunkenen Zeiten und bringen uns diese in ihrem
jahrhundertelangen Laufe so lebendig vor die Seele, daß wir ausrufen:
Hier ist ein Stück Weltgeschichte! Mit leibhaftigem Auge schauen wir das
Walten des Geistes. Von den ältesten Spuren der Kultur dieser Lande
bis auf die neuesten Ereignisse sind ringsum zwischen den Grabmälern,
die ein halbes Jahrtausend hier aneinander gereiht, Denkzeichen der ver¬
schiedensten Art aufgerichtet. Eine hetrurische Aschenkiste steht neben einem
römischen Götterbild, Mosaik und Kaiserbüste vertragen sich friedlich mit
altchristlichen Symbolen und Heiligengestalten, der fabelhafte erzene Greif
mit seiner kufischen Inschrift hält gute Nachbarschaft mit einem römischen
Sarkophag und einem christlichen Taufbecken; prächtige Werke des Mittel¬
alters und der Renaissance schließen sich an, und die Barbarei der Barock¬
zeit hat sich nur allzu breit gemacht. Auch die neueste Zeit hat Schick¬
liches und Edelstes, wie eine schöne Arbeit Thorwaldsens, hinzugefügt.
Dort ist das Standbild Niccolo Pisanos, hier der Grabstein Benozzo
Gozzolis, an jener Wand ruhen unter schönem Grabmale die Gebeine
Kaiser Heinrichs VII. von Luxemburg, der Dantes Hoffnung war. Da¬
neben steht die Büste Cavours und ringsum überall rufen Namen und
Werke große Ereignisse der entferntem und nähern Vergangenheit zurück,
bis dann endlich die merkwürdigen Hafenketten von Pisa, ein Denkmal
alten italienischen Städtehasses und neuer nationaler Einheit, die Folge
geschichtlicher Gedanken gleichsam noch einmal in sich zusammenfassen und
schließen. Denn sie erinnern uns an den Ursprung und die Macht des
alten Pisa, an seine unglücklichen Kämpfe mit Genua und Florenz,
und Inschriften melden, daß diese Ketten jahrhundertelang als Kriegs¬
trophäen in jenen Städten mit Stolz gezeigt wurden, bis neuerlichst zum
Zeichen brüderlicher Eintracht und zum Pfande nationaler Zukunft Florenz
und Genua diese Denkmäler verjährten Hasses an das versöhnte Pisa
schenkten.
Die Malereien nun aber, mit denen die Wände der Hallen ringsum
geschmückt wurden, leiten jene historische Betrachtung auf das Gebiet der
Kunst über, während sie doch auch zugleich durch ihre Gegenstände an
den Ursprung und die höchsten Schicksale des Menschengeschlechtes in Ver¬
gangenheit und Zukunft erinnern. So bildet sich ein Kreis reicher und
großartiger Anregungen, die, wenn auch mannigfaltig und im einzelnen
sehr verschieden, nicht zerstreuen, die vielmehr eine ernste Sammlung und
friedliche Erhebung im Gemüte ausbreiten. Diese gehobene und weihe-