Full text: Mancherlei für Jung und Alt

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Es war der dritte Tag nach der Abfahrt, der 26. November. Ein 
Nordlicht verglühte über den endlosen Schneegefilden; und vom Hunger 
und Frost gepeinigt, vom Fieber geschüttelt, beginnen die Fremdlinge eine 
zweite Wanderung. Mer Stunden haben sie sich unter unsäglichen An¬ 
strengungen weitergeschleppt, da — es ist 11 Uhr — stoßen sie einen 
Freudenschrei aus. Sie erblicken eine Strohhütte, sie stürzen hinein. Die 
Hütte ist bewohnt und augenblicklich zwar leer, aber von den Bewohnern 
offenbar erst vor ganz kurzer Zeit verlassen, denn auf dem aus Feld¬ 
steinen aufgeschichteten Herde liegen noch einige glimmende Feuerbrände. 
Große wollene Strümpfe hängen in einem Winkel, und o des Glückes! 
in einem Topfe befindet sich Milch, in einem andern Kaffee. Was aber 
die Begierde der Hungrigen am meisten reizt, ist ein großes, mit gekochten 
und noch warmen Kartoffeln angefülltes Gefäß! Das sind Leckerbissen 
von Capua! Sie nehmen einige Kartoffeln zu sich, denn seit der Abfahrt 
von Paris hatten sie fast nichts genossen; ein bescheidener Eingriff in 
fremdes Eigentum erscheint ihnen unter solchen Umständen verzeihlich, und 
verzeihlich auch, wenn sie, die noch immer frierenden Glieder zu durch¬ 
wärmen, die erloschene Flamme von neuem schüren. 
Nach Verlauf einer halben Stunde erscheinen plötzlich die Bewohner, 
zwei in Pelze gehüllte Holzhauer. Sie hatten den Rauch aus ihrer Hütte 
aufsteigen sehen und sind eilig zurückgekehrt, um nun, starr vor Erstaunen, 
zwei Fremdlinge vor sich zu erblicken, die auf russische Art, die Arme 
gegen den Himmel erhoben, grüßen. „Parti» de Paris en ballon!“ 
rufen Rolier und Deschamps wie ans einem Munde; aber weder diese 
immer wiederholten Worte, noch ihre lebendigen, beredten Erzählungen 
von der Meerfahrt, von der Landung u. s. w. thun irgend welche Wir¬ 
kung. Tiefe Kehllaute tönen den Franzosen ebenso unverständlich entgegen, 
als den Eingebornen das elegante Pariser Französisch. Endlich zeichnet 
Rolier die Skizze eines Ballons auf ein Stück Papier, und glücklicher 
als Alexander Dumas, dem man, als er einst in einem Gasthofe das 
Bild des Champignons zeichnete, einen aufgespannten Regenschirm brachte, 
werden sie verstanden. Das magische Wort „Paris" und daneben das 
Ballonbild entlockte den braven Bauern den Ausruf: „Ballone! Paris!" 
und ihre anfängliche Bestürzung verwandelte sich bald in das eifrigste 
Bemühen, den hungernden und frierenden Gästen zu helfen. Endlich 
sollte ein glücklicher Augenblick auch noch das letzte Rätsel lösen. Als 
einer der Holzhauer ein Schächtelchen mit Streichhölzern hervorzieht, erblickt 
Rolier ans demselben das Wort „Christiania" und nun mit einemmale wissen 
die beiden Gefährten, daß sie nicht in Rußland, sondern in Norwegen 1 
1 Der Ort, wo die Reisenden niedergingen, liegt unter dem 62. Grade nörd¬ 
licher Breite, im Kirchspiel Silgfjord, und heißt das Lifsjeld.
	        
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