2. Sophokles.
103
auch in edlen Frauen am kräftigsten und als ein Grundtrieb ihres Wesens
das allgemeine Gefühl der höchsten Sitte im ursprünglichsten und er¬
habensten Sinne. Weit entfernt also, unserm Dichter vorzuwerfen, daß
er die Weiblichkeit hier zu hart und männlich behandelt habe, müssen wir
ihn vielmehr bewundern, daß er sie so glorreich erhob zu ihrer höchsten
und heiligsten Bedeutung. In der Elektra freilich finden wir sie oft ein
wenig herber; aber hier braucht auch die treue Rächerin ihres Vaters
nicht allein eine größere Anstrengung zum Kampfe mit ihrer eigenen
Mutter, sondern diese steht ihr noch dazu gegenüber als das von der
Sitte entfesselte Weib, das sich desto empörter gegen die Sitte des Ge¬
schlechtes auflehnt. Und selbst diese gottlose Gattin und Mutter kann
noch Gründe für ihr Betragen vorbringen, wiewohl diese gegen ihren
Greuel doch nur schwachen Stand halten. In dem schönen Gemüte der
Antigone dagegen, wiewohl sie mit allen Bürgern dem gesetzmäßigen
Könige des Landes Gehorsam schuldig ist, siegt die ewige Macht heiliger
Sitte über ein hartes Gebot von bloß menschlicher Herkunft. Bei aller
Hoffnung und allem Wunsche jugendlicher Freuden geht sie freiwillig in
den Tod; doch stirbt sie in der höchsten Glorie, während der König, der
sich von äußerer Macht und endlicher Klugheit zu weit verleiten ließ,
seinen Frevel mit der Ausrottung seines ganzen Hauses büßt. Aber daß
wir auf keine Seite die ganze Schuld des Verderbens werfen, beide büßen
gemeinschaftlich die nie zu verneinende Spaltung zwischen dem ewigen und
dem zeitlichen Gesetze.
Nirgends aber ist wohl eine so vollkommene Verknüpfung und Dar¬
stellung einer tragischen Handlung zu finden, als in den beiden Stücken,
welche die Geschichte des Ödipus zum Gegenstände haben. Schon die
Geburt dieses Mannes war schicksalsschwanger. Die Götter, welche den
Zusammenhang der Zukunft übersehen, obgleich nicht ändern können,
sagten dem Lams die künftigen Greuel des Sohnes vorher. Dennoch
mußte er ihn zeugen, und als er gezeugt war, diente alles Bestreben,
das Verkündigte zu hintertreiben, nur, um es herbeizuführen. Ebenso
ging es dann im Leben des Ödipus selbst, und die gehäuften Orakel¬
sprüche sind nur recht dazu bestimmt, Plan und Absicht mit der durch sie
hingehenden notwendigen Verknüpfung der Begebenheiten in den schärfsten
Gegensatz zu stellen. Ödipus, ein gutgesinnter, für sein Volk väterlicher
König, auf den Thron erhoben nicht durch Geburt, sondern durch Ver¬
dienst, von so durchdringender Klugheit, daß er das Rätsel der Sphinx
erriet, und dazu vielfach von den Göttern gewarnt, hatte dennoch, ohne
es zu wissen oder ausweichen zu können, seinen Vater erschlagen und seine
Mutter geheiratet. Diese vollbrachten Greuel äußern sich durch noch
schrecklichere Zeichen, indem die Pest sein Volk überfällt. Und nun muß