Full text: Beschreibende und lehrende Prosa (Teil 3)

438 II. Lehrende Prosa: Philosophische Propädeutik, Pädagogik und Ethik. 
keinen Zweck erreicht, liegt kein Gntes, und es hätte uns, ohnmächtig oder 
boshaft, durch Vorhaltung eines solchen Traumes von Absicht seiner selbst 
unwürdig getäuscht. Glücklicherweise aber wird dieser Wahn von der Natur 
der Dinge uns nicht gelehrt. Betrachten wir die Menschheit, wie wir sie 
kennen, nach den Gesetzen, die in ihr liegen, so kennen wir nichts Höheres, 
als Humanität im Menschen; denn, selbst wenn wir uns Engel oder 
Götter denken, denken wir sie uns nur als idealische, höhere Menschen. 
Zu diesem offenbaren Zwecke ist unsere Natur organisiert, zu ihm 
sind unsere seinereu Sinne und Triebe, unsere Vernunft und Freiheit, 
unsere zarte und dauernde Gesundheit, unsere Sprache, ist die Kunst uns 
gegeben. In allen Zuständen und Gesellschaften hat der Mensch durch¬ 
aus nichts anderes im Sinne haben, nichts anderes anbauen können als 
Humanität, wie er sich dieselbe auch dachte. Ihr zu gut sind die An¬ 
ordnungen unserer Geschlechter und Lebensalter von der Natur gemacht, 
daß unsere Kindheit länger daure und nur mit Hilfe der Erziehung eine 
Art Humanität lerne. Ihr zu gut sind auf der weiten Erde alle Lebens¬ 
arten eingerichtet, alle Gattungen der Gesellschaft eingeführt worden. 
Jäger oder Fischer, Hirt oder Ackersmann und Bürger: in jedem Zu¬ 
stande lernte der Mensch Nahrungsmittel unterscheiden, Wohnungen für 
sich und die Seinigen errichten; er lernte Kleidungen zum Schmucke 
erhöhen und sein Hauswesen ordnen. Er erfand mancherlei Gesetze und 
Regierungsformen, die alle zum Zwecke haben wollten, daß jeder, un- 
befehdet vom andern, seine Kräfte üben und einen schönern, freiern Ge¬ 
nuß des Lebens sich erwerben könnte. Hierzu ward das Eigentum ge¬ 
sichert und Arbeit, Kunst, Handel, Umgang zwischen mehreren Menschen 
erleichtert: es wurden Strafen für die Verbrecher, Belohnungen für die 
Vortrefflichen erfunden, auch tausend sittliche Gebräuche der -verschiedenen 
Stände im öffentlichen und häuslichen Leben, selbst in der Religion an¬ 
geordnet. Hierzu endlich wurden Kriege geführt, Verträge geschlossen, 
allmählich eine Art Kriegs- und Völkerrecht nebst mancherlei Bündnissen 
der Gastfreundschaft und des Handels errichtet, damit auch außer den 
Grenzen seines Vaterlandes der Mensch geschont und geehrt würde. Was 
also in der Geschichte je Gutes gethan ward, ist für die Humanität gethan 
worden; was in ihr Thörichtes, Lasterhaftes und Abscheuliches in Schwung 
kam, ward gegen die Humanität verübt, so daß der Mensch sich durch¬ 
aus keinen andern Zweck aller seiner Erdanstalten denken kann, als der 
in ihm selbst, d. i. in der schwachen und starken, niedrigen und edeln 
Natur liegt, die ihm sein Gott anschuf. Wenn wir nun in der ganzen 
Schöpfung jede Sache nur durch das, was sie ist und wie sie wirkt, 
kennen, so ist uns der Zweck des Menschengeschlechts auf der Erde durch 
seine Natur und Geschichte wie durch die hellste Demonstration gegeben.
	        
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