Full text: Beschreibende und lehrende Prosa (Teil 3)

VIII. Inwiefern bedarf der Dichter des Helden und der Held des Dichters 2 531 
um seinen Charakter zu stärken und zu stählen, wie er gu streben und zu 
ringen hat, um das ersehnte hohe Ziel zu erreichen. Das Lied von Lenz 
und Liebe, von sel'ger, gold'ner Zeit, von Freiheit, Männerwürde, von 
Treu' und Heiligkeit weckt und stärkt den jungen Helden, um gleich dem 
hohen Vorbilde mit Einsetzung aller Kraft das erhabene Ziel zu erlangen. 
Die im Liede gepriesenen xXsa dvSpiov, die ruhmvollen Thaten der Vor¬ 
fahren, erfreuten und begeisterten die Homerischen Helden; Alexander 
beglückwünschte den toten Achilles, daß er in Homer einen seiner wür¬ 
digen Sänger gefunden habe: „0 fortunate adolesceDs, qui virtutis 
tuae Homerum praeconem inveneris“; er setzte es sich zugleich zum 
Ziele, dem göttergleichen Jünglinge in seinen glänzenden Thaten nach¬ 
zustreben. Anderseits findet der Held in den Schwächen und Mängeln 
der gezeichneten Gestalten eine Mahnung, sich vor ähnlichen Fehlern 
zu hüten, damit er nicht strauchle und die Erreichung seines Zieles 
gefährde. 
Wie der Hinblick auf ein glänzendes Vorbild den Helden zu höchster 
Thatkraft anspornt, so verleiht der Gedanke, daß der Sänger seinen 
Namen und seine Thaten bei der Nachwelt verewigen werde, ihm stets 
neuen freudigen Aufschwung, der ihn in seinem Streben nimmer ermatten 
läßt. Das Bewußtsein, der Mitwelt durch große Thaten genützt zu haben, 
genügt zumeist dem Helden nicht, er wünscht sich die Unsterblichkeit, die 
nach Klopstocks Wort „des Schweißes der Edlen wert ist". Diese Un¬ 
sterblichkeit kann ihm allein des Dichters Lied verleihen; denn „des Helden 
Name ist in Erz und Marmorstein so wohl nicht aufbewahrt als in des 
Dichters Liede". Erz und Marmor fallen der Zeit zum Opfer, des 
Sängers Dichtung aber lebt fort im Volke, in Wahrheit ein rnonumen- 
tulli aere perennius; denn dignum laude virum Musa vetat mori, 
caelo Musa beat (Hör. 1Y, 8, 28). Ohne „Ilias" und ohne „Odyssee" 
würde weder ein Achilles noch ein Odysseus, ohne die „Äneide" kein Äneas, 
ohne „Nibelungenlied" weder ein Siegfried noch ein Hagen uns bekannt 
sein, gemäß dem Worte des größten römischen Lyrikers: „Yixere fortes 
ante Agamemnona multi; sed omnes illacrimabiles urgentur igno- 
tique longa nocte, carent quia vate sacro“ (IY, 9, 25), oder, wie es 
in IY, 8, 20 heißt: „Neque, si chartae sileant, quod bene feceris, 
mercedem tuleris.“ 
Auch der Nachwelt wegen dürfen große, erhabene Thaten eines Helden 
nicht der Nacht der Vergessenheit anheimfallen; sie sollen den späteren 
Geschlechtern ein Spiegel und eine Mahnung sein, auf daß sie sich an 
den Tugenden und dem Streben des Helden erbauen, begeistern und dem¬ 
selben nachstreben. Diese Überlieferung an die Nachkommen vermag wiederum 
nur das Lied des Dichters zu bewirken, welches — gedenken wir nur der
	        
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