Full text: Dichtung des Mittelalters (Teil 1)

§ 18. Wolfram von Eschenbach. 
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Von ihm und von des Zweifels Wanken." 
So lernt’ er Licht und Finstres unter¬ 
scheiden 
Und Gutes üben und das Böse meiden. 
Gar herrlich wuchs der Knab' heran, 
Mit Mut und Stärke angetan. 
Schon warf den Jagdspieß er gewandt, 
Und mancher Hirsch ward froh verzehret. 
Den er erlegt mit seiner Hand. 
Es fand das Wild sich arg beschweret 
Durch seine Kunst; denn gleicherweise. 
Ob blumensprossend, ob vom Eise 
Die Erde starrend war, ihm galt 
Es einerlei — er ging zum Wald. 
Und also nahm er zu an Kraft, 
Daß oft er heimkam so beladen, 
Daß kaum ein Maultier ohne Schaden 
Die Beute hätte weggeschafft. 
So ging er auch an einem Tag 
Nach seiner Art dem Weidwerk nach, 
An einem Berghang niederschweifend 
Und auf dem Blatt dem Wilde pfeifend. 
Da tönte Hufschlag zu ihm her. 
Er greift geschwind zu seinem Speer 
Und lauscht. „Was war's, das ich 
vernommen? 
Will etwa gar der Teufel kommen 
Mit Zornes Grimm ? Er mag nur gehn! 
Ich würd' ihn sicherlich bestehn. 
Die Mutter Grauses von ihm sagt; 
Doch mein' ich, an Mut ist sie verzagt." 
So stand er da in Streitbegehr, 
Sieh! da trottierten Ritter her, 
Gewappnet alle gar und ganz, 
Hell blitzend in der Sonne Glanz. 
Der Knabe wähnte sonder Spott, 
Ein jeder ihrer sei ein Gott. 
Drum warf er nieder auf die Knie' 
Sich mitten in den Weg und schrie: 
„Hilf, Gott, denn du kannst Hilfe reichen!" 
Der vorderste hieß zornig weichen 
Den unberatenen Waleisen 
Der ihn im vollen Laufe still 
Zu halten zwang mit seinem Preisen; 
Wobei ich nur bemerken will: 
Den einen Ruhm, wie an u n s B a y e r n 2, 
Muß ich auch an Waleisen feiern. 
Wenn tapfer zwar, täppischer doch 
Als bayrisch Volk sind diese noch. 
Wer sein Geschick in diesen beiden Landen 
Zur Welt mitbringt — ein Wunder- 
ist vorhanden. 
Noch lag der Knab' auf seinen Knieen, 
Als noch ein Ritter, schön geziert, 
Mit Eil' heran kam galoppiert. 
Es trug ein stattlich Streitroß ihn; 
Er schien zum Kampfe ausgeritten, 
Denn wenig war vom Schilde ganz. 
Graf Ultra-Lak Karnehkarnanz — 
„Wer sperrt den Weg?" — mit rauhen 
Sitten 
Schnaubt also er den Knaben an. 
Doch diesem wie ein Gott getan 
Erschien auch er, da vorher nimmer 
Sein Aug' erblickte solchen Schimmer. 
Der Wappenrock in schönen Wellen 
Fiel bis zur Erde; an den Zügeln, 
An Schild und auch an beiden Bügeln 
Erklangen kleine goldne Schellen, 
So daß, wenn von des Gegners Degen 
In wildem Kampf der Schild erdröhnte, 
Ihr Klingen hold dazwischen tönte. 
Doch sanftern Tones fragt' entgegen, 
Bezwungen von der Schönheit Glanz 
Des Knaben, drauf Karnahkarnanz: 
„Nun sagt' mir, Jungherr, sonder Weile : 
Saht Ihr zwei Ritter hier mit Eile 
Vorüberfliehen? Eine Schande 
Sind sie dem ganzen Nitterstande, 
An Männertugeud ganz verzagt. 
Gewaltsam führten eine Magd 
Sie mit sich, die sie frech geraubt." 
' Einwohner von Valois. 
2 Wolframs Heimat lag im bayrischen Nordgau.
	        
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