§ 11. Das Nibelungenlied.
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4. Als sie mit den Frauen zum Münster wollte gehn,
„Frau," sprach der Kämmerer, „wollt noch stillestehn:
Es liegt vor dem Gemache ein Ritter totgeschlagen."
„O weh," sprach da Kriemhild: „was willst du solche Botschaft sagen?"
5. Eh' sie noch selbst gesehen, es sei ihr lieber Mann,
An die Frage Hägens hub sie zu denken an,
Wie er ihn schützen möchte: da ahnte sie ihr Leid.
Mit seinem Tod entsagte sie nun aller Fröhlichkeit.
6. Da sank sie zur Erden, kein Wort mehr sprach sie da;
Die schöne Freudenlose man da liegen sah.
Kriemhildens Jammer wurde groß und voll;
Sie schrie nach der Ohnmacht, daß all die Kammer erscholl.
7. Da sprach ihr Gesinde: „Es kann ein Fremder sein."
Das Blut ihr aus dem Munde brach vor Herzenspein.
„Nein, es ist Siegfried, mein geliebter Mann:
Brunhild hat's geraten, und Hagen hat es getan."
8. Sie ließ sich hingeleiten, wo sie den Helden fand:
Sein schönes Haupt erhob sie mit ihrer weißen Hand.
So rot er war von Blute, sie hatfl ihn gleich erkannt:
Da lag zu großem Jammer der Held von Nibelungenland.
9. Da rief in Jammerlauten die Königin mild:
„O weh mir dieses Leides! Nun ist dir doch dein Schild
Mit Schwertern nicht verhauen! dich fällte Meuchelmord.
Und müßt' ich, wer der Täter wär', ich wollt' es rächen immerfort."
Nur mit Mühe hält sie Siegfrieds Mannen von sofortiger blutiger Rache ab
und hört mit Unmut die Ausreden Günthers. Als sie an der Leiche des Geliebten
des Bahrrechtes wartet, erkennt sie in dem an dieselbe herantretenden Hagen den
Mörder ihres Mannes, da sofort bei feiner Annäherung die Wunden des Gemordeten
von neuem zu fließen beginnen. Als der Leichnam eingesargt zu Grabe getragen
werden soll, wünscht Kriemhild nochmals den teuren Toten zu sehen.
10. „Laßt mir nach meinem Leide die kleinste Gunst geschehn,
Daß ich sein schönes Angesicht noch einmal dürfe sehn."
Da bat sie im Jammer so lang und so stark,
Daß man zerbrechen mußte den schön geschmiedeten Sarg.
11. Hin brachte man die Königin, wo sie ihn liegen fand.
Sein schönes Haupt erhob sie mit ihrer weißen Hand
Und küßte so den Toten, den edlen Ritter gut;
Ihre lichten Augen, vor Leide weinten sie Blut.