§ 35. Goethes Werke. — Die epischen Dichtungen.
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Hermann, der Sohn des begüterten Wirtes zum Goldenen Löwen in einer
kleinen Stadt unweit des rechten Rheinusers, soll nach dem Wunsche des höher
strebenden Vaters ein wohlhabendes Mädchen aus feiner Familie heiraten. Der
Sohn kann sich jedoch in seiner schlichten Einfachheit nicht entschließen, dem Wunsche
des Vaters Folge zu leisten. Da findet er in einem Zuge von Flüchtlingen, die vor
den „bewaffneten Franken" fliehen und von ihm im Auftrage seiner Eltern mit
Liebesgaben reichlich bedacht werden, ein junges Mädchen, das in seiner lieblichen
Anmut und eifrigen Dienstfertigkeit bei einer armen Wöchnerin einen tiefen Ein¬
druck auf ihn macht, so daß er sie zu seiner Gattin zu wählen entschlossen ist.
Durch Vermittlung seiner liebevoll für ihn besorgten Mutter und durch Fürsprache
des würdigen Pfarrers erreicht er endlich die Zustimmung des Vaters zu feiner
Wahl, falls der Pfarrer und der sich ihm anschließende neugierige Apotheker über
das Mädchen günstige Nachricht einholen können. Da die durch den Ältesten des
Zuges der Vertriebenen gegebene Auskunft an der Tüchtigkeit und Bravheit des
Mädchens keinen Zweifel läßt, faßt Hermann den Entschluß, die Geliebte in das
väterliche Haus einzuführen. Dorothea folgt ihm in der Meinung, daß er sie als
Magd zur Stütze der Mutter begehre; sie fühlt sich daher in ihrem Innersten tief
verletzt, als der Vater sie mit den Worten begrüßt, daß es ihr wohl leicht geworden,
dem schmucken, reichen Sohne zu folgen. In ihrer Erregung enthüllt sie ihre innersten
Gedanken und bewährt sich dadurch als ein Hermanns durchaus würdiges Mädchen.
Als endlich durch Eintreten der Mutter und des Predigers das Mißverständnis
gelöst ist, erfolgt ihre Verlobung mit dem nun starkmutigen Hermann.
Das Epos umfaßt neun Gesänge, die eine doppelte Überschrift tragen,
den Namen einer Muse, die in ihrer Eigentümlichkeit und Bedeutung zu
dem Inhalte des jedesmaligen Gesanges eine Beziehung haben soll, und
ein Stichwort zur Andeutung des Inhaltes (vgl. die Überschriften der
Bücher Homers). Diese Überschriften sind:
I. Kalliope. — Schicksal und Anteil.
Kalliope, die Schönstimmige, als Muse des epischen Gesanges an den
Ansang gestellt; Schicksal und Anteil, hinweisend auf das Geschick der armen
Vertriebenen und aus die Teilnahme der Bürger des Städtchens.
II. Terpsichore. — Hermann.
Terpsichore, die Reigenfrohe, entweder hindeutend auf die heitere Stimmung
des zurückkehrenden Hermann oder auf das lebenslustige Haus des benachbarten
Kaufmanns; Hermann auftretend als Hauptperson.
III. Thalia. — Die Bürger.
Thalia, die Blühende, die Muse des Lustspiels, hinweisend aus die komische
Figur des Apothekers, die Bürger hindeutend aus die Zeichnung des Wirtes und
Apothekers.
IV. Euterpe. — Mutter und Sohn.
Euterpe, die Erfreuende, Muse der lyrischen Dichtung, in Bezugnahme auf
die lyrische Stimmung in der Unterredung zwischen Mutter und Sohn.