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Fadenbüschel in wagerechter Richtung durch weite Strecken, der Sonnen¬
schein dagegen bewirkt das Aufsteigen und vermehrt ihre Tragfähigkeit.
Das Gewebe ist keineswegs leichter als die Luft, und dennoch hat es
die Fähigkeit, in der Lust zu schweben und sogar noch die Spinne zu
tragen. Dies findet aber nur bei warmem Sonnenschein und in ver¬
hältnismäßig kühler Luft statt, und deshalb sind schöne Herbsttage für
die Spinnen die geeignetste Reisezeit.
Die Luft selbst wird bekanntlich von den durch sie hindurchgehenden
Sonnenstrnhlen nur wenig erwärmt; dagegen zeigt sie überall da eine
höhere Temperatur, wo sie unmittelbar feste Körper berührt, die von den
Sonnenstrahlen erwärmt werden. Wird daher der Erdboden durch die
Sonne erwärmt, so entstehen aufsteigende Luftströmungen, welche die
Spinnensäden mit sich in die Höhe führen, während die Winde sie in
wagerechter Richtung weitertreiben. Die gleichzeitige Wirkung beider ver¬
hütet das unfreiwillige Sinken des kleinen Luftschiffes. Die Fadenbüschel,
die sich in der kühlen Luft befinden, werden ebenfalls von den Sonnen¬
strahlen getroffen und erwärmen sich und bte sie umgebenden Luftteile.
Die warmen Luftteilchen um das Gewebe bilden in der kalten Lust ein
Art Luftballon und steigen wie ein solcher empor.
Man kann die Wirkung des Sonnenscheins auf das Fadenbündelchen
der Spinne sich dadurch veranschaulichen, daß man von einem erhöhten
Standpunkte, z. B. aus einem Fenster oder vom Balkon eine kleine
Baumwollflocke (Watte) den Winden übergibt und ruhig treiben läßt.
Wühlt man den Standpunkt, von dem die feinen auseinandergezupften
Baumwollbäuschchen abgelassen werden, derart, daß er im Schatten liegt,
während sonst draußen Sonnenschein herrscht, so sieht man, sobald das
Bäuschchen vom Winde in den Sonnenschein geführt wird, wie es
plötzlich zu steigen beginnt und unter günstigen Umständen sich hoch in
die Lüfte erhebt und oben nur noch wie ein weißes beleuchtetes Pünktchen
erscheint. Sind jedoch Schwalben und Spatzen in der Nähe, so kommt es
häufig vor, daß das Watteflöckchen die höheren Luftschichten nicht erreicht,
sondern vorher von den Vögeln für gute Bente erklärt und ins Nest
geschleppt wird.
Das Fluggespinst unserer Luftschifser kann zu demselben Versuche
dienen, und es Zn erhalten, ist zur geeigneten Zeit nicht schwer.
An schönen Spütsommermorgen überrascht den frühen Spaziergänger
oft ein wundersamer Anblick. Führt ihn sein Weg aus Haus und Garten
auf das Feld, wo vor kurzem noch das Getreide in Garben stand und
jetzt die Ackerkräuter über die Stoppeln lugen, dann sieht er zuweilen,
wie das ganze Feld mit einem feinen Schleier überzogen ist, dessen
einzelne Fäden sich von Stoppel zu Stoppel, von Halm zu Halm, Don
Stengel zu Stengel ziehen, und die im Morgensonnenschein in den
Farben des Regenbogens spielen, wenn der Stand der Sonne für den