Full text: Handbuch für den deutschen Unterricht in den oberen Klassen der Gymnasien (Theil 2)

Goethe (1749-1832.) 
325 
Sich gegen die Schranken 
Des ehernen Fadens, 
Den die doch bittre Scheere 
Nur einmal lös't. 
In Dickichts-Schauers 
Drängt sich das rauhe Wild, 
Und mit den Sperlingen* 6 7) 
Haben längst die Reichen 
In ihre Sümpfe sich gesenkt. 
Leicht ist's folgen dem Wagens, 
Den Fortuna führt, 
Wie der gemächliche Troß 
Auf gebesserten Wegen 
Hinter des Fürsten Einzug. 
Aber abseits, wer ift’S8 11)? 
Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, 
Hinter ihm schlagen 
Die Sträuche zusammen, 
Das Gras steht wieder aus, 
Die Oede verschlingt ihn. 
Ach, wer heilet die Schmerzen8) 
Des, dem Balsam zu Gift ward? 
Der sich Menschenhaß 
Aus der Fülle der Liebe trank! 
Erst verachtet, nun ein Verächter, 
Zehrt er heimlich auf 
Seinen eignen Werth 
In ungenügender Selbstsucht. 
Ist auf deinem Psalter"), 
Vater der Liebe, ein Ton, 
Seinem Ohr vernehmlich, 
So erquicke sein Herz! 
Oeffne den umwölkten Blick 
Ueber die tausend Quellen 
Neben dem Durstenden 
In der Wüste. 
Der du der Freuden viel schaffst"), 
Jedem ein überfließend Maß, 
Segne die Brüder der Jagd, 
Auf der Fährte des Wilds 
Mit jugendlichem Uebermuth 
Fröhlicher Mordsucht, 
Späte Rächer des Unbilds, 
Dem schon Jahre vergeblich 
Wehrt mit Knitteln der Bauer. 
ders ein junger Mann auffiel, welcher schreibselig-beredt und dabei^'so ernstlich durch¬ 
drungen von Mißbehagen und selbstischer Qual sich zeigte, daß es unmöglich war, nur 
irgend eine Persönlichkeit zu denken, wozu diese Seel-Enthüllungen passen möchten. Alle 
seine wiederholten zudringlichen Aeußerungen waren anziehend und abstoßend zugleich, 
daß endlich, bei einer immer aufgeforderten und wieder gedämpften Theilnahme, die 
Neugier rege ward, welchen Körper sich ein so wunderlicher Geist gebildet habe. Ich 
wollte den Jüngling sehen, aber unerkannt, und deshalb hatte ich mich eigentlich auf 
den Weg begeben." 
5) „Der Reisende gelangt auf die nächsten Bergeshöhen; immer winterhafter zeigt sich die 
Landschaft, einsam und öde starrt alles umher, nur flüchtiges Wild deutet auf kümmer¬ 
lichen Zustand. Nun blickt er über gefrorene Teiche, Seen, auch eine Stadt kommt ihm 
zu Gesicht." 
6) „Wer seine Bequemlichkeit aufopfert, verachtet gern diejenigen, die sich darin behagen. 
Jäger, Soldaten, mühsam Reisende bedürfen gutes Muthes, der sich leicht zu Ueber¬ 
muth steigert. Unser Reisender hat alle Bequemlichkeiten zurückgelassen und verachtet 
die Städter, deren Zustand er gleichnißweise schmählich herabsetzt. Wahrscheinlich ist 
ein wundersamer Druckfehler daher entstanden, daß Setzer oder Corrector die Reichen, 
die ihm keinen Sinn zu geben schienen, in Reiher verwandelte, welche doch auf einiges 
Verhältniß zu den Rohrsperlingen hindeuten möchten. In der vorletzten Ausgabe stehen 
jene, diese in der letzten." 
7) „Der Dichter kehrt wieder zu seiner eigenen günstigen Lebensepoche zurück, ohne sich 
irgend ein Verdienst anzumaßen; ja, er spricht von den augenblicklichen Glücksvortheilen 
beinahe mit Geringschätzung." 
8) „Das Bild des einsamen, menschen- und lebensfeindlichen Jünglings kommt ihm wieder 
in den Sinn, er malt sich's aus." 
9) „Er fährt fort, ihn zu beklagen." 
10) „Seine herzliche Theilnahme ergießt sich im Gebet. Die Auslegung dieser Strophen ist 
meinem freundlichen Commentator besonders gelungen; er hat das Herzliche derselben 
innigst gefühlt und entwickelt." 
11) „Der Dichter wendet seine Gedanken zu Leben und That hin, erinnert sich seiner eng¬ 
verbundenen Freunde, welche gerade in dieser Jahreszeit und Witterung eine bedeutende 
Jagd unternehmen, um das in gewisser Gegend sich mehrende Schwarzwildpret zu be¬ 
kämpfen. Eben diese Lustpartie war es, welche jene vertraute Gesellschaft aus der Stadt 
zog, dem Dichter Raum und Gelegenheit zu seiner Wanderung darbietend. Er trennte 
sich mit dem Versprechen, bald wieder unter ihnen zu sein."
	        
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