Full text: Handbuch für den deutschen Unterricht in den oberen Klassen der Gymnasien (Theil 2)

326 
Goethe. (1749—1832.) 
Aber den Einsamen hüll'") 
In deine Goldwolken! 
Umgib mit Wintergrün, 
Bis die Rose wieder heranreift, 
Die feuchten Haare, 
O Liebe, deines Dichters! 
Winterströme stürzen vom Felsen 
In seine Psalmen. 
Und Altar des lieblichsten Danks") 
Wird ihm des gefürchteten Gipfels 
Schneebehangner Scheitel, 
Den mit Geisterreihen 
Kränzten ahnende Völker. 
Mit der dämmernden Fackel ") 
Leuchtest du ihm 
Durch die Furten bei Nacht, 
Ueber grundlose Wege 
Auf öden Gefilden: 
Mit dem tausendfarbigen Morgen 
Lachst du ins Herz ihm; 
Mit dem beizenden Sturm 
Trägst du ihn hoch empor; 
Du stehst mit unerforschtem Busen ") 
Geheimnißvoll offenbar 
Ueber der erstaunten Welt, 
Und schaust aus Wolken 
Auf ihre Reiche und Herrlichkeit, 
Die du aus den Adern deiner Brüder 
Neben dir wässerst. 
12) „Nun aber kehrt er zu sich selbst zurück, betrachtet seinen bedenklichen Zustand und ruft 
der Liebe, ihm zur Seite zu bleiben. Hier ist der Ort, zu bemerken, daß man sich bei 
Auslegung von Dichtern immer zwischen dem Wirklichen und dem Ideellen zu halten 
habe. In der siebenten Strophe heißt Liebe das unbefriedigte, dem Menschen zwar 
inwohnende, aber von außen zurückgewiesene Bedürfniß; in der achten Strophe ist unter 
Vater der Liebe das Wesen gemeint, welchem alle übrigen die wechselseitige Neigung zu 
danken haben; hier in der zehnten ist unter Liebe das edelste Bedürfniß geistiger, vielleicht 
auch körperlicher Vereinigung gedacht, welches die einzelnen in Bewegung setzt und auf 
die schönste Weise in Freundschaft, Gattentreue, Kinderpietät und außerdem noch aus 
hundert zarte Weisen befriedigt und lebendig erhält." 
13) „Er schildert einzelne Beschwerlichkeiten des Augenblicks, die ihn peinlich anfechten, aber 
in Gedanken an die entfernten Geliebten frohmüthig überstanden werden." 
14) „Ein wichtiger, völlig ideell, ja, phantastisch erscheinender Punkt, über dessen Realität 
der Dichter schon manchen Zweifel erleben mußte, wovon aber ein sehr erfreuliches Do¬ 
kument noch in seinen Händen ist. Ich stand wirklich am 7. December in der Mittags¬ 
stunde, gränzenlosen Schnee überschauend, auf dem Gipfel des Brockens zwischen jenen 
ahnungsvollen Granitklippen, über mir den vollkommen klarsten Himmel, von welchem 
herab die Sonne gewaltsam brannte, so daß in der Wolle des Ueberrocks der bekannte 
brünstige Geruch erregt ward. Unter mir sah ich ein unbewegliches Wogenmeer nach allen 
Seiten die Gegend überdecken und nur durch höhere oder tiefere Lage der Wolkenschichten 
die darunter befindlichen Berge und Thäler andeuten. Die herrliche Erscheinung far¬ 
biger Schatten bei untergehender Sonne ist in meinem Entwürfe der Farbenlehre im 
73. §. umständlich beschrieben." 
15) „Hier ist leise aus den Bergbau gedeutet. Der unerforschte Busen des Hauptgipfels wird 
den Adern seiner Brüder entgegengesetzt. Die Metalladern sind gemeint, aus welchen 
die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit gewässert werden. Eine vorläufige Anschauung 
dieser wichtigen Geschäftsthätigkeit sich zu verschaffen, welches ihm auch gelang, veran¬ 
laßte zum Theil das seltsame Unternehmen, wovon das gegenwärtige Gedicht allerdings 
mysteriöse, schwer zu deutende Spuren enthält. 
„Das Thema desselben wäre also wohl folgender Maßen auszusprechen: Der Dichter, 
in doppelter Absicht: ein unmittelbares Anschauen des Bergbaues zu gewinnen und 
einen jungen, äußerst hypochondrischen Selbstquäler zu besuchen und aufzurichten, bedient 
sich der Gelegenheit, daß engverbundene Freunde zur Winterjagdlust ausziehen, um sich 
von ihnen auf kurze Zeit zu trennen. So wie sie rauhe Witterung nicht achten, unter¬ 
nimmt er, nach seiner Seite hin, jenen einsamen wunderlichen Ritt. Es glückt ihm 
nicht nur, seine Wünsche erfüllt zu sehen, sondern auch durch eine ganz eigene Reihe 
von Anlässen, Wanderungen und Zufälligkeiten auf den beschneiten Brockengipfel zu ge¬ 
langen. Von dem, was ihm während dieser Zeit durch den Sinn gezogen, schreibt er 
zuletzt kurz, fragmentarisch, geheimnißvoll im Sinn und Ton des ganzen Unternehmens, 
kaum geregelte rhythmische Zeilen. Durch einen ziemlichen Umweg schließt er sich 
wieder an die Brüder der Jagd, theilt ihre tagtäglichen heroischen Freuden, um Nachts, 
in Gegenwart einer prasselnden Kaminflamme, sie durch Erzählung seiner wunderlichen 
Abenteuer zu ergötzen und zu rühren. 
„Mein werther Commentator wird hieraus mit eigenem Vergnügen ersehen, wie
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.