Full text: Handbuch für den deutschen Unterricht in den oberen Klassen der Gymnasien (Theil 2)

Erker Abschnitt. 
Beschreibung und Schilderung. 
1. Der Berg Tabor. 
die das Gold unter den Metallen, so ist der Berg Tabor der schönste unter allen Bergen 
der Erde; gleich einem Thautropfen auf dem Blatt der Rose, der auf seiner klaren Fläche 
den blauen Himmel und den Stral der Sonne abspiegelt, steht der „heilige Berg" da über 
der grünenden Ebene von Esdrelom; und Erinnerungen, die in dem Schatten seiner Eichen 
erwachen, sind herrlicher als der Strahl der Sonne und das Blau des Himmels im Spie¬ 
gel des Thautropfens. Aber auch ohne diese Erinnerungen würde der bloße natürliche 
Eindruck, den dort die blühende, grünende Nähe, wie die weithin sichtbare Ferne, auf die 
Sinne machet, in jedem Wanderer, der den Tabor besteigt, einen Nachhall der Worte 
„Hier ist gut sein" erregen. 
Vor allem ist es die Stellung, in der Mitte der wunderbaren Tiefe im Nordosten, 
der großen Höhen im Norden und an dem Thore der weiten Thalklüste zwischen dem Car- 
mel und dem Gebirgsstocke Gilboa's, zwischen Ephraims und Judäas Höhen, was der 
Aussicht vom Tabor ihre ganz besondere Kraft gibt. Denn auf dem scharfen, dunklen 
Farbentone, den der Anblick des Tiberiassee's und der mitten inne liegenden Ebene gibt, 
antwortet, wie das Echo von einer fernen Gebirgswand, das blendende Weiß des Schnee's 
auf dem Gipfel des Antilibanon; neben das tiefe, dunkle Blau der Berge Ephraims und 
Judäa's stellt sich das bleiche Grün der Berge Gilboa's und des nachbarlichen kleinen Hermon 
hin. Tief im Süden glaubt man den Spiegel des Todten Meeres zu sehen; desto deutlicher ist 
der Anblick des Genesarethsce's und eines Theiles des Jordansbeckens, dessen gegenüber¬ 
stehende Höhenränder wenigstens durch ihre Farben und Schatten sich unterscheiden. Zu den 
Füßen im Thals, das zwischen dem Tabor und Hermon sich hinziehet, liegt jenes Nain, an 
dessen Thore einst der Herr den Sohn der Witwe aus den Todten zurückrief; nicht weit 
hiervon ein anderes Oertlein erinnert auf andere Weise an den gewaltsamen Einbruch einer 
lebenden Gewalt in das Reich der Todten: es ist Endor, wo die Magierin den Geist Sa- 
muel's des Propheten gewaltsam heraufführte vor Saul's Angesicht. Siegreicher jedoch und 
göttlich hehrer, denn selbst zu Rain, brach die Macht des ewigen Lebens in das Reich der 
Sterblichkeit hier auf dem Taborgipfel herein, da er selber, des Lichts und des Lebens 
ewiger Anfang, sich vor den Augen der drei erwählten Jünger verklärte, also daß sein An¬ 
gesicht leuchtete wie die Sonne und seine Kleider hell wurden wie der Blitz. Denn hier 
war es, wo Moses und Elias in der Klarheit des Himmels ihm erschienen und mit ihm 
redeten von dem Ausgang, welchen er sollte erfüllen in Jerusalem, während mächtiger noch, 
denn Moses und Elias und alle Kräfte der Himmlischen, die Stimme des ewigen Vaters 
selber zeugte aus der Wolke, von ihm, dem geliebten Sohne, „den wir hören, auf dessen 
Wort wir merken sollen." Als damals Petrus, ergriffen und dahingenommen von der Ent¬ 
zückung des Himmels, sprach; „Herr, hier ist's gut sein; lasset uns drei Hütten machen, dir 
eine, Mosi und deni Elias eine", da wußte er nicht, was er redete. Wußten vielleicht, so 
fragt uns da unten in der nachbarlichen Ebene das Schlachtfeld von Hittin*), auch jene 
Kämpfer für die sichtbare Herrschergewalt des Christenthums, welche den Wunsch des Jün¬ 
gers Jahrhunderte hernach erfüllten und hier an dem Orte, da es gut sein ist, nicht bloß 
Hütten, sondern Tempel der Andacht errichteten, auch nicht was sie machten? 
*) Am 4. Juli 1187 Sieg Saladin's über die Christen unter König Guido, wodurch Jerusalem den Christen 
wieder verloren ging.
	        
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