Full text: Handbuch für den deutschen Unterricht in den oberen Klassen der Gymnasien (Theil 2)

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Abriß bet- Poetik. 
des reinen Lebens". Und umgekehrt gibt es 
Wörter und Wortverbindungen, die ihren 
Prosaismus auf der Stirne tragen. Wem 
rieselt z. B. nicht alle Poesie vom Herzen, 
wenn er Wörter wie „Vermögensumstände", 
„Rechnungs-Ablage" u. s. w. hört, oder eine 
Gedankentheilung mit „einerseits — ander¬ 
seits" machen soll! Diese Eigenthümlichkeit 
des poetischen Ausdruckes im Ganzen wie im 
Einzelnen nach seinem Wesen und Wirken 
zu erkennen und zu fühlen, ist nur durch 
Beispiele erreichbar, und muß also die nähere 
Aufgabe des gegenwärtigen Abschnittes an 
die poetische Lectüre verwiesen werden. Im 
Allgemeinen jedoch lassen sich für die poetische 
Darstellung folgende zwei Grundsätze auf¬ 
stellen: 
1. Von den allgemeinen Eigenschaften eines 
guten Stiles sind es besonders die ästhe¬ 
tischen, welche bei einem Gedichte in ihrer 
reinsten Form und höchsten Vollendung er¬ 
scheinen müssen. Also ein Wohlklang, der 
gleichsam melodisch ist und mit Musik wett¬ 
eifert: eine Würde, die zum Idealen erhebt; 
eine Angemessenheit, die das Wort zum Ge¬ 
danken, und beides zur Situation als noth¬ 
wendig erscheinen läßt; eine Natürlichkeit, 
die nirgend eine Mühewaltung, ein Wählen 
und Wollen des Dichters offenbart; eine 
Neuheit, die, ohne aufzufallen, überrascht und 
mit Anmuth sich als vertraut einführt; eine 
Kürze, die nicht mühet und stößt, sondern wie 
stilles Wasser Tiefe und Fülle ahnen läßt; 
eine Manchfaltigkeit, die nicht blendet, aber 
in ihrer Wirkung alle Sinne und Kräfte be¬ 
friedigt; eine Einheit, die den Leser in sich 
aufnimmt und bis zu Ende gefangen hält; 
eine Lebendigkeit endlich, in der die Sprache 
verschwindet und die Gedanken und Vor¬ 
stellungen gleichsam leibhaftig herantreten. 
2. Von den ästhetischen Eigenschaften ist 
es nun wieder die Lebendigkeit, welche 
der poetischen Sprache ihr Gepräge gibt. Die 
Poesie hat es nicht mit dem Verstände, nicht 
mit Begriffen zu thun, sondern mit Vor¬ 
stellungen und Ideen, und sie will die Ideen 
nicht in ihrer Wahrheit beweisen, nicht zum 
eigentlichen Verständniß bringen, sondern will 
sie in Gestalt setzen und zur Anschauung er¬ 
heben. Das Gedicht soll seiner Natur nach 
keiner ferneren Vermittelung mehr bedürfen, 
sondern wie ein Lebendiges, wie eine kleine 
Welt vor die Seele treten. Daher bewegt sich 
die poetische Sprache fortwährend im Con- 
creten, Individuellen, sinnlich Wahrnehm¬ 
baren'; Gestalt reihet sich an Gestalt, Bild an 
Bild, oft unmerklich, ja, oft durch ein Ver 
schweigen, durch sogenannte poetische Sprünge, 
wodurch die Phantasie zur Ergänzung und 
Gestaltenbildung gezwungen wird. Der Dichter 
empfindet z. B. einströmenden Freudengenuß; 
er sieht die Freude als Getränk, das Getränk 
als Wein, den Wein als Traube, die Traube 
an der Rebe, die Rebe am Hügel, den Hügel 
als den bestimmten Hügel, den er kennt, und 
wir folgen ihm, oder weilen mit ihm dort 
bei Formiä, hier am Rheine, und von seiner 
Freude sagt er uns vielleicht kein Wort. Und 
so sind es besonders die Tropen, aus denen 
der Teppich der poetischen Sprache gewebt 
wird, aus denen die Gruppen und Gestalten 
geschaffen werden, welche im Gedichte sich vor 
unseren Augen bewegen; denn malerisch und 
plastisch muß der Inhalt des Wortes sein, 
während seine Laute wie Musik um uns ver¬ 
hallen; Gestalt und Bewegung vor den Augen, 
Harmoniken um das Ohr, das ist die Weise, 
wie der Dichter den Geist zum Geiste führt. 
Man höre einmal die Worte: „Dem Geier 
gleich — Der auf schweren Morgenwolken 
— Mit sanftem Fittich ruhend — Nach 
Beute schaut — Schwebe mein Lied! (Seite 
324) und schaue dann die schweren Wolken 
am Morgenhimmel, und sehe den Geier, 
wie er sich in sicherer Kraft auf seinem 
Fittich wiegt, und ruhig herab schaut in die 
Tiefe, seiner Beute gewiß, die dem scharfen 
Blick begegnen wird, und empfinde dann den 
Geist des Dichters, der sich so mit seinem 
Liede, das er in der Seele trägt, empor¬ 
gehoben fühlt und in der Hohe umherschaut 
auf das Getriebe der Welt mit dem Lichtauge 
seines Genius — und man begreift, was 
Dichterworte find, zugleich freilich, wie enge 
der poetische Ausdruck mit dem poetischen 
Gehalte verwachsen ist. 
Unerläßlich also ist für die dichterische 
Sprache die Gestaltenschöpfung der Phantasie, 
so sehr, daß ja gerade die Phantasie als das 
eigentliche Dichtungsvermögen bezeichnet wird. 
Aber es braucht diese anschauliche Gestaltung 
nicht gerade immer an der bildlichen Bedeu¬ 
tung der einzelnen Worte zu haften, sondern 
auch ganz gestaltlose Wörter können in ihrer 
Gesammtheit einen unmittelbaren. Blick ins 
Innere eröffnen. Das ist besonders im Ly¬ 
rischen der Fall, und überall da, wo die 
Fülle und Wahrheit des Gefühles sich in den 
einfachsten Wortausdruck ergießt und gerade 
dadurch sich wie zum Anschauen abprägt. Ein 
einfaches „Gott erbarme dich meiner", wie 
in den Psalmen, kann oft einen helleren Blick 
in die arme seufzende Seele und auf die 
Trauergestalt des reuig Bittenden gewähren, 
als eine Reihe von Bildern es vermocht hätte. 
Die Verse im Eingänge der Iphigenie: „Als 
wenn ich sie zum ersten Mal beträte", und: 
„Doch immer bin ich wie im ersten fremd" 
(S. 348), enthalten so wenig Anschauliches 
in den einzelnen Wörtern, daß sie fast nur
	        
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