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der Sinne und der Seele der Verstand bereiter und willfähriger ist, eine ihm dar¬
gebotene Erkenntnis in sich zu reproduzieren, sobald sie ihm auf eine den Sinnen
wohlthuende Art dargeboten wird. Nur in dieser beschränkten und bedingten Weise ist
auch hier von künstlerischer Behandlung, von Kunst der Rede zu sprechen. Aber bis
zu jener, der poetischen Rede eigentümlichen Fülle und Höhe des Wohlklanges, deren
Grund tiefer liegt als bloß in dem Zwecke, den Sinnen zu schmeicheln, erhebt sich
die Rede des Verstandes nicht.
Die Prosa ist überall, bei allen Völkern und in allen Epochen der Welt¬
geschichte jünger als die Poesie. Natürlich ist dies nur insofern zu sagen, als wir die
Litteratur ins Auge fassen und nur von der litterarischen Anwendung der einen und
der andern Form sprechen. Sonst ist freilich die Prosa gewiß älter, und die Menschen
werden sich gewiß eher in Prosa unterhalten als Verse verfaßt haben. Indessen davon
sehen wir hier billig ab; wir nehmen die Prosa als eine mit bewußter Absicht zu
litterarischen Zwecken gehandhabte Form der Darstellung, als die Form der zweiten
Art von Litteratur nächst der Poesie. Und so aufgefaßt ist die Prosa allerdings die
jüngere Schwester, oder noch lieber die Tochter der Poesie. Überall sind Jahrhunderte
vergangen, ehe man zu ihr gelangt ist. Die Prosa stellt sich immer erst dann ein,
wenn ein Volk aus dem Zustande unbefangener Einfachheit in das bewußtere Leben
einer künstlichen Civilisation übergeht; bis zu diesem Punkte ist ihm und wird ihm
alles Poesie. Die Geschichte kennt es nur nocb als Sage, d. h. es forscht nicht in
den Ereignissen der Vorzeit nach der nackten und dürren Wahrheit, sondern es behält
von ihnen nur die poetisch umkleidete Idee in ihrer lebendigen Schönheit; die Sage
aber, dichterisch in ihrem Wesen, zeigt sich auch in der Form dichterisch, als Lied,
als Gesang. Selbst der Verstand geht jetzt noch mehr oder weniger in die Poesie
unter; er giebt seinen Lehren eine solche Beziehung auf Einbildung und Gefühl,
durch welche sie auf das Gebiet der poetischen Anschauungen oder doch wenigstens
an dessen Grenze versetzt werden, und wo das nicht gelingt, muß sich die Lehre
dennoch wenigstens die poetische Form gefallen lassen.
Noch ein äußerer Umstand ist nicht zu übersehen, der überall das Seinige dazu
beigetragen hat, die Ausbildung der Prosa, sowohl der historischen als der didaktischen,
zu unterstützen und zu beschleunigen: der Gebrauch der Schrift, der in diesen Zeit¬
altern der gehobenen Civilisation sich immer weiter ausbreitet. Wenn man früher
auch bereits die Schrift gekannt hatte, so war man doch zu wenig vertraut mit ihr
und war schon dadurch genötigt, Erzählungen und Lehren, die man wollte aufbewahrt
wissen, der für das Gedächtnis bequemeren poetischen Darstellung zu überlassen; auf
der andern Seite war es dann eine natürliche Rückwirkung, daß die Schrift wieder
nicht in rechten Gebrauch kam, weil man alles eben auch sonst recht wohl behalten
konnte. Ein entsprechendes Verhältnis von Wirkung und Rückwirkung zeigt sich nun
auf der Stufe höherer Bildung zwischen Schrift und Prosa. Die Schrift ist gebräuch¬
licher, und damit wird die Prosa möglich, deren Aufbewahrung man nicht so getrost
dem bloßen Gedächtnisse anheimgeben kann; die Prosa ist da, und damit wächst das
Bedürfnis, sich der Schrift zu bedienen.
Historische und didaktische, erzählende und lehrende Prosa, das sind
die beiden Hauptarten, in welche diese Form der Darstellung durch das Wort zerfällt.
(Gekürzt.)
4. Zwei Proben deutscher Dichtung aus der ältesten Zeit.
1. Aas Lied von Kikdeörand und Kaduörand.
(Bruchstück.)
Ich hörte sagen, sich heischten znm Kampf
Kildebrand und Kadubrand unter Keeren
zwein,
Des Sohns und des Vaters. Sie sah'n nach
der Rüstung,
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