Full text: Dichtungen der neueren Zeit

Heinrich Heine. 
209 
4. Seit jener Stunde verzehrt sich mein Leib, 
Die Seele stirbt vor Sehnen; —- 
Mich hat das unglücksel'ge Weib 
Vergiftet mit ihren Thränen. 
2. Ibenddümmenmg.ch 
Am blassen Meeresstrande 
Saß ich gedankenbekümmert und einsam. 
Die Sonne neigte sich tiefer und warf 
Glührote Streifen auf das Wasser, 
5 Und die weißen, weiten Wellen, 
Von der Flut gedrängt, 
Schäumten und rauschten näher und näher — 
Ein seltsam Geräusch, ein Flüstern und Pfeifen, 
Ein Lachen und Murmeln, Seufzen und Sausen, 
10 Dazwischen ein wiegenliedheimliches Singen — 
Mir war, als hört' ich verschollne Sagen, 
Uralte, liebliche Märchen, 
Die ich einst als Knabe 
Von Nachbarskindern vernahm, 
15 Wenn wir am Sommerabend 
Auf den Treppensteinen der Hausthür 
Zum stillen Erzählen niederkauerten 
Mit kleinen, horchenden Herzen 
Und neugierklugen Augen; 
20 Während die großen Mädchen 
Neben duftenden Blumentöpfen 
Gegenüber am Fenster saßen, 
Rosengesichter, 
Lächelnd und mondbeglänzt. 
3. Sturm. 
Es wütet der Sturm, 
Und er peitscht die Wellen, 
Und die Well'n, wutschäumend und bäumend, 
Türmen sich aus, und es wogen lebendig 
5 Die weißen Wasserberge, 
Und das Schifslein erklimmt sie 
Hastig mühsam, 
Und plötzlich stürzt es hinab 
In schwarze, weitgähnende Flutabgründe — 
*) 2—4 aus „Die Nordsee" (1825—1826). 
Dichtungen d. neueren Zeit.
	        
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