Full text: [Teil 7 = Obersekunda] (Teil 7 = Obersekunda)

4. Uber die Entstehung der romanischen Sprachen. 415 
und Klimate, innerhalb des ungeheuren römischen Reiches und seiner Nach¬ 
folgerin, der völkerumfassenden christlichen Kirche, geboren und erwachsen. 
Auf den ersten Blick scheinen die romanischen Sprachen eine ungeheure 
Einbuße erlitten zu haben. Die alte Grammatik ist zugrunde gegangen, 
die feierlichen Flexionssilben sind verschwunden, die durch sie bedingte freie 
Wortstellung ist eine gebundene geworden. Das Neutrum ist aufgegeben; 
an die Stelle des Infinitivs sind in vielen Fällen Satzpartikeln, an bt'e 
der Kasusendungen Präpositionen, an die der Personalendungen voranstehende 
Pronomina getreten. Der Komparativ und Superlativ wird durch Um¬ 
schreibung, eine Anzahl Tempora durch Hilfsverba ersetzt. Das Substantiv 
bedarf der Begleitung durch das abgeschwächte Zahlwort unu8 oder das 
gleichfalls verblaßte Demonstrativpronomen ille, den sogenannten Artikel. 
Daß das Ganze dieser Erscheinungen den Charakter moderner Sprachen 
überhaupt konstituiert, beweist nicht bloß das Neugriechische, sondern auch 
das Deutsche, welches seit gotischer Zeit ganz denselben Gang verfolgt hat 
und jetzt gleichfalls das Substantiv durch den Artikel stützt, die abhängigen 
Sätze durch ein daß einleitet, von der Flexion nur einen geringen Rest 
noch bewahrt und die meisten Tempora des Verbums umschreibt. Vielleicht 
geschieht dieser Übergang aus den Flexionssprachen in die sogenannten 
analytischen auf folgende Art. In einem gebildeteren Zeitalter, nach 
längerer geschichtlicher Entwicklung, im Zusammenstoß oder Verkehr mit 
fremden Volksgeistern, infolge eingreifender Ereignisse usw. weicht der Halb¬ 
schlummer einer größeren geistigen Regsamkeit; diese führt zu einem 
schnelleren, bewegteren Sprechen; dieses bringt Verkürzung der Beziehungs¬ 
formen mit sich, die in dieser Abschleifung zuletzt ungenügend werden. 
Dabei verstärkt sich in einem erregteren, nervösen Geschlecht der Akzent, 
der Hauptzerstörer der Flexion und der mit ihr wesentlich zusammen¬ 
hängenden Vokalquantität. Die Deutlichkeit leidet: Auxiliarwendungen 
stellen sich ein und greifen von einzelnen Punkten immer weiter um sich. 
Zwar stellt sich die Schrift, die überall konservativ wirkt, dem Umschwung 
entgegen, aber sie vermag ihn höchstens zu retardieren, nicht ihn gänzlich 
abzuwenden, und in Zeiten wie der Ausgang des Altertums und der 
Beginn des Mittelalters weniger als je. Man glaube aber nicht, daß in 
diesem Prozeß nur ein schwindendes Leben zur Erscheinung komme. In 
der neueren Weise liegt vielmehr eine reifere Männlichkeit, ein die Phantasie¬ 
hülle abstreifender, denk- und sachgemäßer Ernst, daher ein helleres, gleich¬ 
mäßigeres Licht, ja selbst eine frischere Sinnlichkeit. Die alten, feineren, oft 
nur in einem Buchstaben, einer Betonung oder Quantität bestehenden, mit 
dem Begriffsworte erwachsenen Beziehungen sind dem Gefühl nicht ein¬ 
greifend genug, dem Verstände, der Inhalt und Form geschieden wissen 
will, störend; sie teilen die Aufmerksamkeit und halten sie bei Nebendingen, 
bei anhangendem schönem Schein auf; ihre Mannigfaltigkeit, z. B. die der 
sechs Kasus des Singulars und Plurals in den fünf lateinischen Deklina¬ 
tionen , erscheint als kindisches, von der Sache abführendes Spiel. Der 
Redende, indem er Partikeln braucht und nach festen Formeln umschreibt, 
gibt daher gleichsam vollere Stücke mit gleichbleibendem Wert und einfach 
kenntlichem Gepräge; zugleich gewinnt er Raum für den wesentlichen Ge¬ 
danken, der in der klaren, logischen Wortstellung in seiner natürlichen Gestalt 
hervortritt. Daß die englische Sprache z. B. das Genus der Substantiva 
aufgegeben hat, darf in dieser Hinsicht als großer Vorzug angesehen werden.
	        
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