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alles entnommen, es ist auch alles wieder so hingestellt, daß eine atmende
Geschöpfwelt sich um uns bewegt, daß wir uns wie van einer leisen Hand
ergriffen und in des Rsmus kleines Reich freundlich geführt fühlen, damit
wir nun selber weiter darin wandeln, wer als über spießbürgerliche
Plattheiten darüber lacht, daß da der Morgenstern „linker Hand" steht,
oder der Mond „nur halb zu sehn" ist, dem geht es noch heute, wie es
damals auch manchem gegangen ist: er merkt nicht, daß gerade in dieser
Rufrichtigkeit, das scheinbar Nüchternste ganz schlicht zu sagen, ein fördernd
Neues bei Claudius lag, und er dringt über diese „Nüchternheiten" nicht
bis zu den besonderen feinen Gefühlen vor, die sich ganz allein s o ver¬
mitteln ließen. Ls ist eine ganz unbewußte Nunst bei Claudius, aber eine
durch und durch echte Nunst, eine Sprachkunst, die so ursprünglich wie
keine seit Jahrhunderten vor ihr aus dem Loden selber Gold hob.
„Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Um Himmel hell und klar,-
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Uebel wunderbar."
wer sieht das nicht? Und wer empfindet es daneben als etwas
höheres, wenn Nlopstock von der Sonne als „dem Wecker mit dem rötlichen
Fuß" redet oder, wenn ein Schuß fällt, uns zu seiner „Telyn" vorsingt:
„des frommen Mönchs Erfindung schallt" ? wissen wir nicht in solchen
Fällen sofort, wo starke Natur und wo Künstelei aus mangelnder Nraft ist?
Noch eines von Claudius:
„Uch, es ist so dunkel in der Todes Kammer,
Tönt so traurig, wenn er sich bewegt
Und nun aufhebt seinen schweren Hammer
Und die Stunde schlägt."
Man wolle das langsam und laut ein-, zwei-, dreimal vor sich hin
lesen. Rann mit wenigen Mitteln mehr erreicht werden als in diesem
Vierzeiler? Reim, Rhythmus, Nnschauung, es ist alles schlechterdings
meisterhaft darin. Uber wenn man recht in die „Claudiusstimmung" ge¬
kommen ist, dann versenke man sich in das „Wiegenlied, bei Mondschein zu
singen", hier hat die höchste Naivität die höchste Nunst geboren. Cs ist
keine tote Zeile, es ist kein totes Wort darin. Sch glaube, das ganze
deutsche Schrifttum hat nichts, was zugleich so keusch und so liebewarm
wäre, hat nichts Innigeres als dieses Gedicht, und dabei ist es noch ein
Schatzstück von psychologischer Feinmalerei.
Schöufelsder, Deutsches Lesebuch für prima.
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