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der Enthaltsamkeit in der Gesetzgebung ist mit dem neuen Deutschen Reich
eine Ära des Gesetzemachens gefolgt, wie sie niemals in der Weltgeschichte
gewesen ist. Der Gedanke, das Leben durch die Gesetzgebung bestimmen
zu können, ist niemals in solchem Umfang herrschend gewesen als gegen¬
wärtig. ,Nicht bloß die Sozialdemokratie glaubt an die Möglichkeit, durch
die Gesetzgebung die Gesellschaft umzugestalten — trotz ihrer jeweiligen
Versicherung des Gegenteils und des Bekenntnisses zu Marx-Hegelscher Ge¬
schichtsphilosophie — sondern alle übrigen Parteien halten es ebenso, bis
zu den agrarischen „konservativen", die als erste und wichtigste Rufgabe
des allmächtigen Staats, wenn auch nicht das wettermachen, so doch die
Regulierung der Preise der Bodenprodukte betrachten, was praktisch so
ziemlich auf dasselbe hinauskommt. Der Staat kann ja alles, denn er ist
Macht, die oberste Macht auf Erden. Er könnte, so fügen die Frauenrechtler
hinzu, wenn er wollte, auch aus Frauen Männer machen, wenigstens in
Rbsicht auf das Recht, so daß nur der kleine und zufällige natürliche Unter¬
schied bliebe. Und wie der Staat, so denkt die Rirche: Macht ist das Wesen
jeder Rutorität. Ja, die Rirche war es, die zuerst die neue Zeit begriffen
hat. Die Rehabilitierung der katholischen Rirche, die mit dem Wiener
Frieden begann, stand von Unfang an unter dem Zeichen: die Vernunft
hat abgewirtschaftet, siehe die Revolution von 1789' die menschlichen Dinge
können nicht auf schwankende subjektive Gedanken, sondern nur auf den
festen willen und die Macht einer dauernden, auf sich ruhenden Uutorität
gebaut werden. Die Rirche ist Macht, der Satz hat in der päpstlichen Un¬
fehlbarkeit seine letzte, sichtbarste Darstellung gefunden. Gehorsam will
ich, nicht Überzeugung- was ist Wahrheit? — Und im Gebiet des Pro¬
testantismus begegnen uns überall ähnliche, wenn auch weniger erfolgreiche
Bestrebungen, von den Tagen, da Elans kfarms in seinen Thesen für „den
Papst zu unserer Zeit" die Vernunft und das Gewissen erklärte und Rant
als denjenigen bezeichnete, der diesem Götzen den Stuhl der Majestät gestellt
habe, bis auf den Tag, da das Hannoversche Ronsistorium für Recht erkannte,
daß ein Pfarrer, der sich eigene Gedanken über die Hrt und weise der Ruf-
erstehung Jesu mache, abzusetzen sei, überall dieselbe, wenn auch etwas
schwächere Wiederholung des katholischen Vorbilds: die Rirche ist Macht
oder sie ist gar nicht, was geht uns deine Gewissensnot an? Da siehe
du zu.
Sn der Runst und Literatur schaffen sich die herrschenden Tendenzen
sichtbare Symbole. Man stelle sich auf den Platz vor dem Berliner Schloß
und halte Umschau über die Werke aus der ersten und aus der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts: sie tragen das Geheimnis, die Idee, die sie aus¬
drücken, offen zur Schau. Man vergleiche die Schloßbrücke und ihre auf
zierliche Postamente gestellten Idealfiguren mit der Raiser-Wilhelm-Brücke
und ihren auf mächtige Granitblöcke gestellten Riesenrüstzeugen und ver-