Full text: Deutsches Lesebuch für Prima (Teil 8)

207 
der Enthaltsamkeit in der Gesetzgebung ist mit dem neuen Deutschen Reich 
eine Ära des Gesetzemachens gefolgt, wie sie niemals in der Weltgeschichte 
gewesen ist. Der Gedanke, das Leben durch die Gesetzgebung bestimmen 
zu können, ist niemals in solchem Umfang herrschend gewesen als gegen¬ 
wärtig. ,Nicht bloß die Sozialdemokratie glaubt an die Möglichkeit, durch 
die Gesetzgebung die Gesellschaft umzugestalten — trotz ihrer jeweiligen 
Versicherung des Gegenteils und des Bekenntnisses zu Marx-Hegelscher Ge¬ 
schichtsphilosophie — sondern alle übrigen Parteien halten es ebenso, bis 
zu den agrarischen „konservativen", die als erste und wichtigste Rufgabe 
des allmächtigen Staats, wenn auch nicht das wettermachen, so doch die 
Regulierung der Preise der Bodenprodukte betrachten, was praktisch so 
ziemlich auf dasselbe hinauskommt. Der Staat kann ja alles, denn er ist 
Macht, die oberste Macht auf Erden. Er könnte, so fügen die Frauenrechtler 
hinzu, wenn er wollte, auch aus Frauen Männer machen, wenigstens in 
Rbsicht auf das Recht, so daß nur der kleine und zufällige natürliche Unter¬ 
schied bliebe. Und wie der Staat, so denkt die Rirche: Macht ist das Wesen 
jeder Rutorität. Ja, die Rirche war es, die zuerst die neue Zeit begriffen 
hat. Die Rehabilitierung der katholischen Rirche, die mit dem Wiener 
Frieden begann, stand von Unfang an unter dem Zeichen: die Vernunft 
hat abgewirtschaftet, siehe die Revolution von 1789' die menschlichen Dinge 
können nicht auf schwankende subjektive Gedanken, sondern nur auf den 
festen willen und die Macht einer dauernden, auf sich ruhenden Uutorität 
gebaut werden. Die Rirche ist Macht, der Satz hat in der päpstlichen Un¬ 
fehlbarkeit seine letzte, sichtbarste Darstellung gefunden. Gehorsam will 
ich, nicht Überzeugung- was ist Wahrheit? — Und im Gebiet des Pro¬ 
testantismus begegnen uns überall ähnliche, wenn auch weniger erfolgreiche 
Bestrebungen, von den Tagen, da Elans kfarms in seinen Thesen für „den 
Papst zu unserer Zeit" die Vernunft und das Gewissen erklärte und Rant 
als denjenigen bezeichnete, der diesem Götzen den Stuhl der Majestät gestellt 
habe, bis auf den Tag, da das Hannoversche Ronsistorium für Recht erkannte, 
daß ein Pfarrer, der sich eigene Gedanken über die Hrt und weise der Ruf- 
erstehung Jesu mache, abzusetzen sei, überall dieselbe, wenn auch etwas 
schwächere Wiederholung des katholischen Vorbilds: die Rirche ist Macht 
oder sie ist gar nicht, was geht uns deine Gewissensnot an? Da siehe 
du zu. 
Sn der Runst und Literatur schaffen sich die herrschenden Tendenzen 
sichtbare Symbole. Man stelle sich auf den Platz vor dem Berliner Schloß 
und halte Umschau über die Werke aus der ersten und aus der zweiten 
Hälfte des Jahrhunderts: sie tragen das Geheimnis, die Idee, die sie aus¬ 
drücken, offen zur Schau. Man vergleiche die Schloßbrücke und ihre auf 
zierliche Postamente gestellten Idealfiguren mit der Raiser-Wilhelm-Brücke 
und ihren auf mächtige Granitblöcke gestellten Riesenrüstzeugen und ver-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.