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reichen und duftlosen Blumen ausschmücken. Du warst nicht und wirst nicht
sein berühmt bei jenen, die es nicht ahnen, welch ein Wesen es ist, das
dir bei deiner Geburt die sanfte Geisterhand auf Stirn und Lippen gelegt
hat, die nicht finden können, was der Dichter sinnt und meint, wenn er
aus Licht und äther magische Fäden spinnt und mit ihnen herz und Welt,
Geistesleben und Erde, Fels, Sonne, Mond und flüsternde Bäume und
rauschende Wasser in ein Ganzes geheimnisvoll zusammenschlingt, — die
es nicht fassen, wie es doch kommt, daß der Dichter von dieser und nicht
von dieser Welt ist, daß er in diese unsere Welt eine zweite, eine Welt
von holden und gewaltigen Wundern hineinstellt, — die ihn nicht verstehen,
den Flor aus zartem Goldgespinst, den er um die kahle Deutlichkeit der
Dinge windet.
5lber es gibt eine Gemeinde, und nur in der Vergleichung mit der
breiten Wenge ist sie klein, eine stille Gemeinde, die sich labt und entzückt
an deinen wunderbaren, hellen, seligen Träumen und die hohe Wahrheit
schaut in diesen Träumen. Es gibt eine Gemeinde, die den Dichter nicht
nach rednerischen Worten schätzt, die den feineren Wohllaut trinkt, der aus
ursprünglichem Naturgesühl der Sprache quillt. Und sie wird wachsen,
diese Gemeinde, sich erweitern zu Ureis um Ureis, Bund um Bund wird
sich bilden von Einverstandenen in deinem Verständnis.
30. Geibel.
Kdolf Stern, Die deutsche Nationalliteratur vom Tode Goethes bis zur Gegenwart.
Marburg 1905, Elwert.
Emanuel Geibel aus Lübeck war unter allen deutschen Lyrikern der Mitte
des 19. Jahrhunderts der, dessen Gedichte in die weitesten Ureise eindrangen,
der, namentlich nach dem Jahre 1848 und bis zur Wiederausrichtung des
Deutschen Ueiches, der poetische Sprecher für wünsche, Stimmungen, Emp¬
findungen von Hunderttausenden blieb. In Geibel erschien wieder einmal
einer jener Dichter, die von der Nachempfindung des vergangenen Schönen
zu einer gewissen selbständigen, wenn schon eklektischen Poesie reifen. Geibels
poetisches Talent empfing seine erste Nahrung im geistlichen Vaterhauses
der christliche Lebensodem und die gläubige Gesinnung dieses Hauses ver¬
banden sich mit den frühesten Regungen seiner Phantasie und seinen jugend¬
lichen Empfindungen den Rümpfen und der Sehnsucht der Zeit gegenüber.
So ward er in der Periode des philosophischen, politischen und sittlichen
Radikalismus der Poet einer völlig entgegengesetzten Anschauung, die insofern
eine konservative heißen konnte, als Geibel ein lebendiges, ja leidenschaft¬
liches und tiefes Gefühl für alles Edle der seitherigen Welt, der Vergangen¬
heit, in sich trug, und wiederum nicht konservativ im beschränkten Partei¬