Full text: Literaturgeschichtliches Lesebuch

127 
reichen und duftlosen Blumen ausschmücken. Du warst nicht und wirst nicht 
sein berühmt bei jenen, die es nicht ahnen, welch ein Wesen es ist, das 
dir bei deiner Geburt die sanfte Geisterhand auf Stirn und Lippen gelegt 
hat, die nicht finden können, was der Dichter sinnt und meint, wenn er 
aus Licht und äther magische Fäden spinnt und mit ihnen herz und Welt, 
Geistesleben und Erde, Fels, Sonne, Mond und flüsternde Bäume und 
rauschende Wasser in ein Ganzes geheimnisvoll zusammenschlingt, — die 
es nicht fassen, wie es doch kommt, daß der Dichter von dieser und nicht 
von dieser Welt ist, daß er in diese unsere Welt eine zweite, eine Welt 
von holden und gewaltigen Wundern hineinstellt, — die ihn nicht verstehen, 
den Flor aus zartem Goldgespinst, den er um die kahle Deutlichkeit der 
Dinge windet. 
5lber es gibt eine Gemeinde, und nur in der Vergleichung mit der 
breiten Wenge ist sie klein, eine stille Gemeinde, die sich labt und entzückt 
an deinen wunderbaren, hellen, seligen Träumen und die hohe Wahrheit 
schaut in diesen Träumen. Es gibt eine Gemeinde, die den Dichter nicht 
nach rednerischen Worten schätzt, die den feineren Wohllaut trinkt, der aus 
ursprünglichem Naturgesühl der Sprache quillt. Und sie wird wachsen, 
diese Gemeinde, sich erweitern zu Ureis um Ureis, Bund um Bund wird 
sich bilden von Einverstandenen in deinem Verständnis. 
30. Geibel. 
Kdolf Stern, Die deutsche Nationalliteratur vom Tode Goethes bis zur Gegenwart. 
Marburg 1905, Elwert. 
Emanuel Geibel aus Lübeck war unter allen deutschen Lyrikern der Mitte 
des 19. Jahrhunderts der, dessen Gedichte in die weitesten Ureise eindrangen, 
der, namentlich nach dem Jahre 1848 und bis zur Wiederausrichtung des 
Deutschen Ueiches, der poetische Sprecher für wünsche, Stimmungen, Emp¬ 
findungen von Hunderttausenden blieb. In Geibel erschien wieder einmal 
einer jener Dichter, die von der Nachempfindung des vergangenen Schönen 
zu einer gewissen selbständigen, wenn schon eklektischen Poesie reifen. Geibels 
poetisches Talent empfing seine erste Nahrung im geistlichen Vaterhauses 
der christliche Lebensodem und die gläubige Gesinnung dieses Hauses ver¬ 
banden sich mit den frühesten Regungen seiner Phantasie und seinen jugend¬ 
lichen Empfindungen den Rümpfen und der Sehnsucht der Zeit gegenüber. 
So ward er in der Periode des philosophischen, politischen und sittlichen 
Radikalismus der Poet einer völlig entgegengesetzten Anschauung, die insofern 
eine konservative heißen konnte, als Geibel ein lebendiges, ja leidenschaft¬ 
liches und tiefes Gefühl für alles Edle der seitherigen Welt, der Vergangen¬ 
heit, in sich trug, und wiederum nicht konservativ im beschränkten Partei¬
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.