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und Schönheit allein eine Welt, deren Bewohner er wäre, vom verbleuten
Untergange retten könnte, in dessen Natur so viel Kunst und in dessen
Kunst so viel Natur" sei: „ihm gab das Schicksal die göttliche Gabe, alles,
was er berührt, in das reinste Gold des geläutertsten Menschensinnes, in
das Eigentum und Erbteil der sittlichen Grazie zu verwandeln." Und
wir wissen, als Goethe zuerst mit Schiller in nähere Berührung kam, da
war es für ihn „wie ein neuer Frühling". Diese verjüngende Lenzeskraft
kann heute noch jeder aus dem geistigen Verkehr mit Schiller für sich ge¬
winnen, aus dessen Leben und aus dessen Werken. Diese Kraft heißt: ver¬
trauen in das Ideal, Glaube an die geistigen Mächte in uns, die uns zu
Herren der Verhältnisse und der Uatur, auch der eigenen, machen, die uns
das ruhige, sichere Gefühl innerer Überlegenheit in allen Lebenslagen geben
können,' die Zuversicht ferner, daß die Stärke der menschlichen Seele einer
unermeßlichen Steigerung fähig, daß eine Menschwerdung nach dem gött¬
lichen Urbild unser letztes Ziel und möglich sei. wer möchte nicht gerade
der heutigen Generation solche Energien, solche Erhöhung der Lebensziele
wünschen, diesem Geschlechte, das einerseits vielfach noch in materialistischer
Befangenheit überall nur Zwang und Notwendigkeit zu sehen und an sitt¬
licher Freiheit und sittlicher Verantwortlichkeit zu verzweifeln allzu geneigt
ist, während andererseits gerade heute die Uhnung eines Neuen, das kommen
will, die Zeit in allen Tiefen erregt.
Schillers Ziel war, wie Wilhelm von Humboldt sagt, so hoch gesteckt,
daß er nie an einen Endpunkt gelangen konnte. Und ein ebensolches Ziel
hat Schiller unserm deutschen Volke und der Menschheit aufgestellt. Uber
er hat die Idee höheren Menschentums nicht nur ausgesprochen, er hat
sie auch betätigt und in sich verwirklicht' sein Idealismus ist inneres Er¬
lebnis. Sein Idealismus ist Tat, ist alltäglich und allstündlich bewährte
Kraft im Dienste einer großen Idee. Uus seinem innersten Leben erst ist
diese Kraft in sein philosophisches Denken, in sein dichterisches Schaffen
eingeströmt. So ist der ganze Mann, der Dichter, der Philosoph und der
Geschichtschreiber, aus einem Gusse. So erst verstehen wir das herrliche
Wort Goethes: „Jedes Uuftreten von Thristus, jede seiner Äußerungen
gehen dahin, das höhere anschaulich zu machen. Immer von dem Gemeinen
steigt er hinauf, hebt er hinauf: Schiller war eben diese Thristustendenz ein¬
geboren, er berührte nichts Gemeines, ohne es zu veredeln."-
Schiller hat das Unaussprechliche, das jeder Suchende sucht, in sich
gesunden und in der Gesamtheit seiner Persönlichkeit zum Uusdruck ge¬
bracht. So, in der Gesamtheit seiner Persönlichkeit, in seinem Leben und
in seinen Werken muß er uns wieder lebendig werden, wenn wir ihm die
Hilfe für unser Sein und Tun entnehmen wollen, die er nach Gottfried
Kellers schönen Worten für uns bereit hält: