Full text: Deutsches Lese- und Bildungsbuch für höhere katholische Schulen

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Ein königlicher Anblick war's, ob dein 
Die Thräne rollt' in manches Mannes Bart; 
Und wie nun nm sie harrend all' die Menge stand, 
Und sich des Volkes Brausen so gelegt, 
Daß man des Rheines stillen Zug vernahm; 
Denn Niemand wagt' es, diesen oder den 
Zu küren mit dem Hellen Rur der Wahl, 
Um nicht am Andern Unrecht zu begeh'n, 
Noch aufzuregen Eifersucht und Zwist; 
Da sah man plötzlich, wie die beiden Herrn 
Einander herzlich faßten bei der Hand, 
Und sich begegneten im Bruderkuß. 
Da ward es klar, sie hegten keinen Neid, 
Und jeder stand dem andern gern zurück. 
Der Erzbischof von Mainz erhob sich jetzt: 
„Weil doch," so rief er, „Einer es muß sein, 
So sei's der Aelt're." Freudig stimmten bei 
Gesammte Fürsten, und am freudigsten 
Der jüng're Konrad. Donnergleich erscholl 
Oft wiederholt des Volkes Beifallruf. 
Als der Gewählte drauf sich niederließ, 
Ergriff er seines edlen Vetters Hand 
Und zog ihn zu sich auf den Königssitz. 
Und in den Ring der Fürsten trat sofort 
Die fromme Kaiserwittwe Kunigund'; 
Glückwünschend reichte sie dem neuen König 
Die treu bewahrten Reichskleinode dar. 
Zum Festzug aber scharten sich die Reih'n, 
Voran der König, folgend mit Gesang 
Die Geistlichen und Laien; so viel Preis 
Erscholl zum Himmel nie an einen: Tag! 
Wär' Kaiser Karl gestiegen aus der Gruft, 
Nicht freudiger hätt' ihn die Welt begrüßt. 
So wallten sie den Strom entlang nach Mainz, 
Woselbst der König im erhab'nen Dom 
Der Salbung heil'ge Weihe nun empfing. 
Wen seines Volkes Ruf so hoch gestellt, 
Dem fehle nicht die Kräftigung von Gott! 
Und als er wieder aus dem Tempel trat, 
Erschien er herrlicher, als kaum zuvor, 
Und seine Schulter ragt' ob allem Volk. 
Uhland. 
77. Das Kaus in der Keide. 
Ä^ie lauscht, vom Abendschein umzückt, 
Die strohgedeckte Hütte, — 
Recht wie im Nest der Vogel duckt, — 
Aus dunkler Föhren Mitte! 
Und drinnen kniet ein stilles Kind, 
Das scheint den Grund zu jäten; 
Nun pflückt sie eine Lilie lind, 
Und wandelt längs den Beeten. 
Am Fensterloche streckt das Haupt 
Die weißgestirnte Stärke*), 
Bläst in den Abendduft, und schnaubt, 
Und stößt an's Holzgewerke. 
Am Horizonte Hirten, die 
Im Heidekraut sich strecken, 
Und mit des Ave's Melodie 
Tränmende Lüfte wecken. 
Seitab ein Gärtchen, dornumhegt, 
Mit reinlichem Gelände, 
Wo matt ihr Haupt die Glocke**) trägt, 
Aufrecht die Sonnenwende. 
Und von der Tanne ab und an 
Schallt es, wie Hammerschläge; 
Der Hobel rauscht, es fällt der Span, 
Und langsam knarrt die Säge. 
*) Eine junge, gewöhnlich zweijährige Kuh. 
:*) Glockenblume (campanula).
	        
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