Full text: Deutsches Lese- und Bildungsbuch für höhere katholische Schulen

143 
Da hebt der Abendstern gemach 
Sich aus den Föhrenzweigen, 
Und grade ob der Hütte Dach 
Scheint er sich mild zu neigen. 
Es ist ein Bild, wie still und heiß 
Es alte Meister hegten, 
Kunstvolle Mönche, und mit Fleiß 
Es auf den Goldgrund legten: 
Der Zimmermann, — die Hirten gleich 
Mit ihrem frohen Liede, — 
Die Jungfrau mit dem Lilienzweig 
Und rings der Gottesfriede. 
Annette v. Drostc-Hülshoff. 
78. Das Khristusöild zu Men. 
Äst euch vom Christusbild zu Wien 
Die Sage nicht bekannt, 
Das immer zollbreit größer schien, 
Als wer da vor ihm stand? 
Und war der Mann auch noch so klein, 
Es ließ sich vor ihm nieder; 
Und hatt' er riesenhaft Gebein, 
Doch überragt es seine Glieder. 
Ich weiß nicht, ob das Christusbild 
Sich dort noch schauen läßt; 
Doch daß von Christus selber gilt 
Die Sage, glaub' ich fest. 
Dem Kleinen naht er als ein Kind, 
Daß er ihn nicht erschrecke; 
Doch seiner Glieder Maß gewinnt 
Der Größte nicht, wie er sich strecke. 
So spricht auch sein verkündet Wort 
Schlicht zu dem schlichten Mann, 
Das aller Erdenweisheit Hort 
Doch nie erreichen kann. 
Wähnt Einer jetzt, er komm' ihm gleich, 
Schon ist's emporgeschossen; 
So zieht's zu ew'gcr Wahrheit Reich 
Die Geister aufwärts unverdrossen. 
K. Simrock. 
79. Irauenkobs Kod. *) 
Es läuten alle Glocken 
Zu Mainz mit Trauerklang, 
Und durch des Domes Hallen 
Tönt ernster Grabgesang. 
Ein Zug von edlen Frauen 
Zieht ein durch's hohe Thor, 
Und schwarze Fahnen wallen. 
Es ragt ein Sarg empor. 
Und um die schwarzen Fahnen 
Flammt helles Kerzenlicht, 
Und strahlt auf manches holde, 
Verweinte Angesicht; 
Und strahlt auf einen Todten 
Mit sanftem Glanz hinab, 
Den acht der schönsten Frauen 
Hintragen zu dem Grab. 
Sie weinen und sie singen 
Ein Trauerlied zumal, 
Und gießen Wein hernieder 
Aus goldenem Pokal; 
Und streuen Ros' und Myrten 
Und helles Rebenlaub 
Hinab auf's harte Lager, 
Wo ruhen soll sein Staub. 
Wen tragt, ihr edle Frauen, 
So trüb und kummerbleich? 
War es vielleicht ein König, 
Der Krone ließ und Reich? 
„Wir tragen keinen König, 
Geziert mit ird'schem Glanz; 
Und unverwelklich schmücket 
Dieß Haupt ein Lorbeerkranz." 
So tragt ihr einen Helden 
Aus ritterlichem Blut, 
Der einst in wilden Schlachten 
Gekämpft mit hohem Muth? 
„Wir tragen keinen Ritter, 
Er ward nicht Held genannt, 
Nur eine gold'ne Harfe 
Trug diese fromme Hand. 
st Zur Vergleichung mit Nr. 72, S. 130.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.