Full text: Die deutsche Dichtung des 19. Jahrhunderts in ihren Hauptvertretern

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O Lellas, welche Lippe 
Sagt, was dein Äerz erlitt, 
Als hier des Fremdlings Lippe 
Der Freiheit Lilien schnitt! 
Was half dir da der Musen 
Verhängnisvolle Gunst, 
Im götterreichen Busen 
Das heitre Licht der Kunst? 
Der Tiefsinn deiner Weisen, 
Der Sänger Lorbeerzier, 
An jenem Tag von Eisen, 
Was frommt' es alles dir? 
Ach, krank im Kern des Lebens 
Von eifersüchtger Glut, 
Verströmtest du vergebens 
Dein letztes Leldenblut. 
Weil du gelöst mit Pochen 
Des Pfeilbunds stark Geflecht, 
Sank, Schaft für Schaft zerbrochen, 
Dahin dein ganz Geschlecht. 
Mit ehrnem Schluß die Zügel 
Ergriff Barbarenhand — 
O schau in diesen Spiegel, 
Schau her, mein Vaterland! 
Spruch. 
Liebe, die von Lerzen liebt, 
Ist am reichsten, wenn sie gibt; 
Liebe, die von Opfern spricht. 
Ist schon rechte Liebe nicht. 
Am Mitternacht. 
Im Saal gedankenvoll 
Saß ich bei Lampenschein; 
Durchs offne Fenster quoll 
Die Sommernacht herein. 
Dein Bild, von treuer Land 
Geschmückt mit frischem Kranz, 
Sah von der dunkeln Wand 
Mich an im Dämmerglanz. 
Da, auf der Sehnsucht Pfad 
Vertiefte sich mein Sinn, 
And himmlisch leuchtend trat 
Dein Wesen vor mich hin; 
Ach, wie du lilienrein 
Nie nach dem Deinen frugst 
And lächelnd selbst die Pein 
Wie eine Leilge trugst, 
And überm Abgrund dann, 
Dem düstern, Tod und Grab, 
Ling mein Gedank' und sann 
In seine Tief' hinab. 
Werd' ich dich Wiedersehn? 
Kann je, was Liebe hier 
Erwarb, verloren gehn? 
And weißt du noch von mir? 
O gib mir, hast du Macht, 
Ein Zeichen noch so stumm! — 
Da schlug es Mitternacht, 
And zaudernd blickt' ich um. 
Ein süßes Duften flog 
Vom Kranz, der zitternd hing, 
And um die Lampe zog 
Ein weißer Schmetterling. — 
Mittagszauber. 
Im Garten wandelt hohe Mittagszeit, 
Der Rasen glänzt, die Wipfel schatten breit; 
Von oben sieht, getaucht in Sonnenschein 
And leuchtend Blau, der alte Dom herein. 
Am Birnbaum sitzt mein Töchterchen im 
Gras; 
Die Märchen liest sie, die als Kind ich las; 
Ihr Antlitz glüht, es ziehn durch ihren Sinn 
Schneewittchen, Däumling, Schlangenkönigin. 
Kein Laut von außen stört; 's ist Feiertag — 
Nur dann und wann vom Turm ein Glocken¬ 
schlag! 
Nur dann und wann der mattgedämpfte Schall 
Im hohen Gras von eines Apfels Fall! 
Da kommt auf mich ein Dämmern wunder¬ 
bar; 
Gleichwie im Traum verschmilzt, was ist und 
war: 
Die Seele löst sich und verliert sich weit 
Ins Märchenreich der eignen Kinderzeit.
	        
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