Full text: Die deutsche Dichtung des 19. Jahrhunderts in ihren Hauptvertretern

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„Nach einem solchen Marsch wirst gut schlafen bei der Nacht," versetzte der 
Kilian, mit mir gleichen Schritt haltend. 
„Leut wird nicht geschlafen bei der Nacht, heut ist Christnacht." 
„Was willst denn sonst tun als schlafen bei der Nacht?" 
„Nach Kathrein in die Mette gehen." 
„Nach Kathrein?" fragte er, „den weiten Weg?" 
„Am zehn Ahr abends gehen wir von Laus fort, und um drei Ahr früh sind 
wir wieder daheim." 
Der Kilian biß in sein Pfeifenrohr und sagte: „Na, hörst du, da gehört viel 
Christentum dazu. Beim Tag ins Mürztal und bei der Nacht in die Mette nach 
Kathrein! Soviel Christentum hab' ich nicht, aber das sage ich dir doch: wenn du 
dein Bündel in meinen Buckelkorb tun willst, daß ich es dir eine Zeitlang trag' und 
du dich ausrasten kannst, so hast ganz recht; warum soll der alte Esel nicht auch 
einmal tragen!" 
Damit war ich einverstanden, und während mein Bündel in seinen Korb sank, 
dachte ich: „Der grüne Kilian ist halt doch ein besserer Mensch, als man sagt." 
Dann rückten wir wieder an, ich huschte frei und leicht neben ihm her. 
„Ja, ja, die Weihnachten!" sagte Kilian fauchend, „da geht's halt drunter und 
drüber. Da reden sich die Leut' in eine Aufregung und Frömmigkeit hinein, die gar 
nicht wahr ist. Zm Grund ist der Christtag wie jeder andere Tag, nicht einen 
Knopf anders. Der Reiche, ja, der hat jeden Tag Christtag, unsereiner hat jeden 
Tag Karfreitag." 
„Der Karfreitag ist auch schön," war meine Meinung. 
„Za, wer genug Fische und Butter und Eier und Kuchen und Krapfen hat 
zum Fasten!" lachte der Kilian. 
Mir kam sein Reden etwas heidentümlich vor. Doch was er noch weiters 
sagte, das verstand ich nicht mehr, denn er hatte angefangen sehr heftig zu gehen, 
und ich konnte nicht recht nachkommen. Zch rutschte auf dem glitschigen Schnee mit 
jedem Schritt ein Stückchen zurück, der Kilian hatte Fußeisen angeschnallt, hatte lange 
Beine, war nicht abgemattet — da ging's freilich voran. 
„Lerr Kilian!" rief ich. 
Er hörte es nicht. Der Abstand zwischen uns wurde immer größer, bei Weg¬ 
biegungen entschwand er mir manchmal ganz aus den Augen, um nachher wieder in 
größerer Entfernung, halb schon von Nebeldämmerung verhüllt, aufzutauchen. Jetzt 
wurde mir bang um mein Bündel. Kamen wir ja doch schon dem Löllkogel nahe. Das 
ist jene Stelle, wo der Weg nach Alpel und der Weg nach Fischbach sich gabeln. 
Zch hub an zu laufen; im Angesichte der Gefahr war alle Müdigkeit dahin, ich lief 
wie ein Lündlein und kam ihm näher. Was wollte ick aber anfangen, wenn ich ihn 
eingeholt hätte, wenn ihm der Wille fehlte, die Sachen herzugeben, und mir die 
Kraft, sie zu nehmen? Das kann ein schönes Ende werden mit diesem Tage, denn 
die Sachen lasse ich nicht im Stich, und sollte ich ihm nachlaufen müssen bis hinter 
den Fischbacher Wald zu seiner Lütte! 
Als wir denn beide so merkwürdig schnell vorwärtskamen, holten wir ein 
Schlittengespann ein, das vor uns mit zwei grauen Ochsen und einem schwarzen 
Kohlenführer langsam des Weges schliff: der Grabler Lansel. Mein grüner Kilian 
wollte schon an dem Gespann vorüberhuschen, da schrie ich von hinten her aus Leibes¬ 
kräften: „Lansel! Lansel! Sei so gut, leg mir meine Christtagsachen auf den 
Schlitten, der Kilian hat sie im Korb, und er soll sie dir geben!" 
Mein Geschrei muß wohl sehr angstvoll gewesen sein, denn der Lansel sprang 
sofort von seinem Schlitten und nahm eine tatbereite Laltung an. And wie der 
Kilian merkte, ich hätte hier einen Bundesgenossen, riß er sich den Korb vom Rücken
	        
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