Full text: Die deutsche Dichtung des 19. Jahrhunderts in ihren Hauptvertretern

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IV. Die Weisheit des Brahmanen. 
I, 1. Ein indischer Brahman, geboren auf der Flur, 
Der nichts gelesen als den Weda der Natur, 
Lat viel gesehn, gedacht, noch mehr geahnt, gefühlt, 
And mit Betrachtungen die Leidenschaft gekühlt, 
Spricht bald, was klar ihm ward, bald um sich's klar zu machen, 
Von ihn angehnden halb, halb nicht angehnden Sachen. 
Er hat die Eigenheit, nur einzelnes zu sehn. 
Doch alles Einzelne als Ganzes zu verstehn. 
Woran er immer nur sieht schimmern einen Glanz, 
Wird ein Betkügelchen an seinem Rosenkranz. 
I, 74. Lauch Gottes, Poesie, o komm, mich anzuhauchen. 
In deinen Rosenduft die kalte Welt zu tauchen! 
Was du anlächelst, lacht, was du anblickest, glänzt; 
Die Eng' erweitert sich, und Weites wird begrenzt. 
Durch dich ist ewig, was im Augenblick geschwunden. 
Was ich gelebt, gedacht, genossen und empfunden. 
IV, 1. Ein rechter Lehrer ist, wer pilgernd alle Stätten 
Von Gangas Quellenmund hat bis ans Meer betreten; 
An jedem Heilgen Strom, der in die Ganga mündet. 
Lat im Gebet gekniet und sich im Bad entsllndet; 
And dann zur Einsamkeit den Dust zurückgebracht 
Von Gottes Gnadenfüll' und seiner Schöpfung Pracht 
And in der Einsamkeit das Helle Bild entfaltet 
Von Gottes Lerrlichkeit, die durch die Schöpfung waltet. 
Auf seines Mundes Wort mag wohl ein Schüler lauschen. 
Vereinigt hört er dort die Heilgen Ströme rauschen. 
IV, 3. Von sichrer Meisterschaft ist Scherz ein sichres Zeichen; 
Wie sich die Katze läßt zum Scherz die Maus entweichen. 
Der Scherz ist ein Versuch, Angleichheit gleichzustellen; 
Drum scherzen ungestraft nur unter sich Gesellen. 
Mit Kleinerm scherze nicht! er wird sich überheben; 
And nicht mit Größerem! er wird dir's nicht vergeben. 
Der Scherz ist sicher, der den Ernst hat an der Land, 
In Schutz zu nehmen ihn vor blödem Mißverstand. 
Der Scherz ist sicher, nie die Achtung zu verscherzen. 
Der ein Bewußtsein trägt von höhrer Würd' im Lerzen. 
Sich wegzuwerfen mag ein Weilchen sich nicht schämen, 
Wer sicher ist, sich selbst gleich wieder anzunehmen. 
Wer mit den Schmerzen scherzt, der hat sich überwunden 
Entweder, oder wird von ihnen nie gesunden. 
Drum reimet Scherz aus Schmerz, und beides reimt auf Lerz, 
Weil Dichterherzen stets verwandeln Schmerz in Scherz. 
IV, 25. Tu recht und schreibe dir nicht als Verdienst es an, 
Denn deine Schuldigkeit allein hast du getan. 
Tu's gern! und wenn pir das nicht zum Verdienst gereicht. 
Gereicht dir's doch zur Lust, daß dir die Pflicht ward leicht.
	        
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