Full text: Proben der Poesie und Prosa des 16., 17., 18. und 19. Jahrhunderts, eingerahmt in einen kurzen Abriß der neueren Literaturgeschichte (Abschn. 2)

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Seit 1785. Entwicklungsgang. 
Szene: der 65. Grad nördlicher Breite. Die See ist sehr stürmisch, und das 
Schiff linker Hand leidet große Not und will sinken. Du bist mit aus dem anderen 
Schiffe und siehst die armen Nachbarn die Hände ausstrecken und um Hilfe schreien. 
Bist du nun ein ästhetischer Seifensieder, so setz' dich hin und mache eine Elegie 
auf den Untergang des anderen Schiffs, und wie die Leute geschrieen, und was dein 
Herz für Mitleid gefühlt habe usw. Jst's dir aber Ernst mit dem Mitleid, so geh' 
und bitte den Schisser, daß er das Boot daran wage. Hängt den Poeten an den 
Mast, daß er euch nicht im Wege sei, wenn ihr 's Boot aussetzt, und steige flugs 
und fröhlich mit einigen Matrosen hinein, die armen Leute zu holen. Der dir den 
Mut dazu gab, wird dir auch glücklich durch Sturm und Wellen hin und her helfen. 
— Oder ponamus: der da auf der Anhöhe im Morgendämmer bist du und siehst 
hinaus ins Meer, und nun steigt die Sonne aus dem Wasser hervor; und das 
rührte dein Herz, und du könntest nicht umhin, auf dein Angesicht niederzufallen, — 
so falle hin, mit oder ohne Tränen, und kehre dich an niemand und schäme dich 
nicht. Denn sie ist ein Wunderwerk des Höchsten und ein Bild desjenigen, vor den: 
du nicht tief genug niederfallen kannst. Bist du aber nicht gerührt, und mußt du 
drücken, daß eine Träne komine, so spare dein Kunstwasser und laß die Sonne ohne 
Tränen ausgehen. 
Ich könnte dir der Exempel leicht mehr machen, aber Holzschnitte kosten Geld, 
und du kannst sie dir ebenso leicht selbst machen. Übrigens wirst du an diesen Ernst- 
und Kurzweilexempeln bemerkt haben: erstlich, daß Ernst ganz natürlich sei. Und so 
ist es denn auch. Die wahrsten Empfindungen sind immer die allernatürlichsten, auch 
in der Religion. Denn es gibt auch in der Religion Kurzweil und Ernst. Zweitens 
wirst du bemerkt haben, daß wahre Empfindung an und in sich selbst genug habe 
und die Tür ihres Kämmerleins hinter sich zuschließe, daß Kurzweil hingegen nach 
außen hantiere und Tür und Fenster öffne. 
Und so verhält es sich in Wahrheit, auch mit den höheren Empfindungen. Und 
wo so nach Menschenbeifall geangelt wird, da ist's nicht rein und richtig. 
Zweiter Abschnitt. 
Von 1785 bis in die neueste Zeit. 
Der Entwicklungsgang. Aus der Gefühlsschwärmerei der Sturm- und Drang¬ 
zeit (s. S. 83) erheben sich die großen Meister vermöge der ihnen innewohnenden 
geistigen Fülle sowie durch die Gunst glücklicher Lebenswendungen zu männlicher 
Kraft und Klarheit. Die mehr und mehr erstarkende Kritik, in der Philosophie von 
Kant, in der Ästhetik von Winckelmann und Lessing, in der Philologie von 
Fr. A. Wolf geübt, durchläutert die Wissenschaft und verurteilt das subjektive Be¬ 
lieben; die allgemeinen Grundlagen des geistigen und des praktischen Lebens werden 
einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Da die fortdauernde politische Ohnmacht 
Deutschlands einen nationalen Aufschwung, eine staatliche Wiedergeburt verhindert, 
so versenkt sich der idealistische Sinn um so tiefer in die Anschauung des reinen 
Menschentums, wie es sich in der griechischen Literatur und Kunst wahr und schön
	        
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