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Vorwort zur siebenten Auflage.
Für die Anlage und den Inhalt eines deutschen Lesebuchs für die oberen Klassen höherer
Lehranstalten sind unter den Aufgaben des deutschen Unterrichts, wie sie die Lehrpläne vom
31. März 1882 übereinstimmend für sämtliche Schulen von neunjähriger Lehrdauer feststellen,
vorzugsweise die folgenden maßgebend:
1) Der Unterricht soll die „Bekanntschaft mit den Hauptepochen der National-
litteratur" vermitteln. „Auf Grund einer wohlgewählten Klassen- und Privat¬
lektüre sollen die Schüler mit den Hauptepochen unserer Litteratur bekannt
gemacht und für die Heroen unserer Litteratur durch das Verständnis der be¬
deutendsten ihnen zugänglichen Werke mit dankbarer Hochachtung erfüllt werden."
Die Lektüre „aus der neueren Litteratur" soll „klassische poetische und prosaische Werke" um¬
fassen; die aus der mittelalterlichen dagegen soll unter Ausschluß der Einführung in die
mittelhochdeutsche Sprache so eingerichtet werden, „daß die Schüler aus guten Über¬
setzungen mittelhochdeutscher Dichtungen einen Eindruck von der Eigentümlichkeit
der früheren klassischen Periode unserer Nationallitteratur gewinnen". 2) Im
Anschluß an die Lektüre soll Verständnis der Kunstformen der Dichtung und Prosa
erzielt werden und zwar so, daß die Belehrungen aus dem Gebiet der Poetik, Rhetorik
und Metrik zunächst der vollständigen Auffassung der Lektüre dienen und all¬
mählich in den durch dieNatur derSache selbst gegeb enen Zusammenhang gebracht
werden". 3) Duich Vorführung stilistischer Muster sollen die Litteraturproben die Belehrungen
aus der Srilist>k und Dispositionölehre unterstützen.
Demgemäß enthält das vorliegende Lesebuch für die oberen Klassen höherer Lehranstalten
im Rahmen eines gedrängten Abrisses der Litteraturgeschichte, also in historischer Ordnung, jedoch
unter steter Hinweisung auf die Kunstformen der poetischen und prosaischen Rede, poetische Proben
vorzugsweise aus den beiden klassischen Perioden sowie aus der Reformationszeit und in seinen
prosaischen Abschnitten ausschließlich solche Abhandlungen, welche vorzügliche Stoffe für logische,
ästhetische, sprach- und litteraturgeschichtliche Bildung darbieten.
Der vorliegende erste Abschnitt umfaßt Proben der Blütezeit des Mittelalters, besonders
des 12 und 13. Jahrhunderts, in neuhochdeutschen Übersetzungen. Die Auswahl der Stücke
wurde bestimmt 1) auf Grund ihrer Klassicität, 2) auf Grund ihrer Fähigkeit, das nationale
Leben nach allen Seiten zu veranschaulichen und die eigenartigen Gedanken und Empfindungen
abzuspiegeln, welche die Welt des deutschen Mittelalters in ihren innersten Tiefen bewegt haben.
Um den dabei nicht zu vermeidenden Bruchstücken den Charakter des Fragmentarischen einiger¬
maßen abzustreifen, wurden sie durch brückenartige Inhaltsangaben so mit einander verbunden,
daß sie sich als Glieder größerer Organismen darstellen. Am ausgiebigsten sind das Nibelungen¬
lied, Gudrun und Walther von der Bogelweide ausgezogen. In Sekunda wird sich der Unterricht
am zweckmäßigsten auf das heroische Epos beschränken.
In einer Zeit, in welcher das deutsche Volk nach seiner Wiedervereinigung in einem
mächtigen deutschen Reiche vollste Ursache hat, sich auf die Grundzüge seines Wesens und seiner
Entwicklung zu besinnen, um sich der von den Vätern ererbten Tugend, Größe und Herrlichkeit
bewußt zu bleiben, darf die Einführung der zur künftigen Leitung der Nation berufenen Jugend
in die vaterländische Litteratur der Vergangenheit, in welcher ja so manche starke Wurzeln
unserer Kraft verborgen liegen, nicht nach allzukargem Maß bemessen werden. So ist denn
bei der Bestimmung des Umfangs dieser Sammlung nicht sowohl die Zahl der ausgeworfenen
deutschen Lehrstunden izwei beziehungsweise drei), als vielmehr auch die wünschenswerte Aus¬
dehnung der Privatlektüre in Betracht gezogen und deshalb alles Beste aufgenommen worden,
was würdig schien, in den Kreis der Kenntnis der Jugend gezogen zu werden. Die litteratur-
geschichtlichen, besonders die biographischen Einleitungen und die dunklere Stellen erläuternden
Anmerkungen werden der häuslichen Lektüre ein tieferes Eindringen in das Verständnis der
Litteraturproben erleichtern. Die kleine Zugabe aus „Reinke de Vos" wird hoffentlich nicht bloß in
litteraturgeschichtlichem Interesse, sondern auch als Probe einer noch weithin in deutschen Gauen
leicht verständlichen älteren Sprachform willkommen sein.
Die vorhandenen Übersetzungen mittelalterlicher Dichtungen leiden nach der Auffassung
des Herausgebers mehr oder weniger an zu großer Gebundenheit an die Sprachform der Originale.
Die Übersetzung soll zwar den Inhalt des Originals völlig wiedergeben, die Anschauungen und
Empfindungen des mittelalterlichen Lebens treu ausdrücken, also auch nicht aus dem Vorstellungs¬
kreise des Sprachschatzes, welcher der mittelalterlichen Welt zur Schilderung geistigen Lebens
diente, hinausgehen. Doch soll sie auch den Ansprüchen unseres Geschmacks und unserer sprach¬
lichen Bildung gerecht zu werden suchen; sie soll deshalb unverständliche Sprachformen, metrische
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