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Geschichte.
Met und Palmwein gefüllt, große Matten mit leckeren Gerichten gehen aus der
königlichen Küche hervor. An den Altären der Götter entflammen Dankopfer;
Hymnen steigen, in altheiliger Sprache gesungen, zu den Bewohnern des Himmels
empor.
Bis zum späten Abend wogt in der Königsburg die siegreiche, zechende
Menge, während im Prunkgemache der von den Beamten und Feldherrn um¬
gebene König die Berichte Biliqbis über seine Waffentaten, das Verhalten der
fernen Provinzen und die Beschwerden des Marsches entgegennimmt.
Auf hoher Warte aber, fern vom Getümmel der Stadt, steht einsam ein
Himmelsbeobachter vor dem Altar Schamaschs, dessen Gestirn jetzt blutrot an
den Horizont streift. Schwere Wolken säumen den Rand des Nordhimmels;
dräuende Gestalten bilden sich aus ihnen, die nur zu wohl bekannt sind: Scha¬
masch zürnt; Jschtar bleibt unsichtbar. — Schweres Unheil droht Stadt und
Reich, langsam reifend, vom Norden. — —
Der lohende Sonnenball versinkt, und in derselben Stunde haucht Nadinu
seinen umnachteten Geist aus.
C. Bezold, Ninive und Babylon. Bielefeld, Velhagen und Klasing. 1903’, S. 139.
21. Die Medizin zur Zeit des Hippokrates.
Die wissenschaftliche Heilkunde ist eine Schöpfung des kühnen und kritischen
ionischen Geistes. Was man im 4. Jahrhundert von der reichen medizinischen
Literatur der Ionier besaß, wurde auf den Namen des Hippokrates getauft, des
Hauptvertreters der koischen Schule in der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts. Er
war als Wanderarzt in griechischen Landen weit herumgekommen — in Thessa¬
lien zeigte man sein Grab — und gilt schon dem Platon als der Begründer
einer wissenschaftlichen Behandlung der Medizin. Es ist aber bisher noch nicht
gelungen seinen Anteil an der Sammlung der hippokratischen Schriften mit Sicher¬
heit zu bestimmen.
Diese Sammlung ist sehr bunt; sie enthält neben Schriften der koischen
Schule auch solche der konkurrierenden knidischen, neben Krankenjournalen, die
nie für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen, philosophische Theorien über Gesundheit
und Krankheit und populär-geistreiche Apercus, wie sie in anderen Schriften der
Sammlung aufs schärfste verurteilt werden, neben Schriften, die jeden Supra¬
naturalismus boshaft verspotten, abergläubische Zahlenspielerei. Aber soviel
steht fest, daß die Sammlung so gut wie vollständig noch dem 5. Jahrhundert
angehört; es ergibt sich daraus ein klares Bild, zwar nicht der persönlichen
Leistung des Hippokrates, aber doch des Standpunkts und der Strömungen der
jungen medizinischen Wissenschaft in ihrer Werdezeit.
Die Ärzte waren zunftmüßig organisiert; der erhaltene Zunfteid verpflichtet
den Adepten seinen Meister als einen Vater zu ehren und seinen Nachkommen
die Kunst unentgeltlich beizubringen; außer ihnen und seinen eigenen Söhnen
darf er nur die regelrecht eingeschriebenen und vereidigten Genossen in der Kunst