Abriss der mittelhochdeutschen Verskunst.
$ 1. Die mhd. Verse werden nach Füssen (Schritten*)) gemessen.
Jeder Versfuss enthält einen stark betonten Teil (Hebung) und einen
schwächer oder nicht betonten (Senkung). Der Versfuss hat in der
Regel den Umfang zweier mittlerer Silben (x x). Man unterscheidet
im Vers: 1. mittlere Quantität (x gewöhnliche Länge oder Kürze),
?. gedehnte Lánge (. ), die die Dauer zweier mittleren Silben haben
kann, 8. verminderte Kürze - die etwa die Hälfte einer mittleren Silbe
dauert; so dass also LL = x, x x —^-: ist. Betonte Silben sind nur
dann kurz, wenn sie auf kurzen Vokal ausgehen, also s7-ge, l-sen; —
mun, bic, sol sind somit lang. Unbetonte Silben sind meist kurz.
Anm. Zwei Versfüsse (Schritte) kónnen zu einer Dipodie (Takt) vereinigt
werden; dann ist die Hebung des einen stärker als die des anderen, also z. B.
wes | pitet | ir min | her | re; er | ist ge- | waltec | unde | stare, aber wol den |
mir des | gunnen,
$ 2. Die grammatische Quantität einer Silbe ist für ihre Betonung
im Vers meist gleichgiltig (also Längen können in der Senkung, Kürzen
in der Hebung stehen). Die Senkung (wo nötig, durch ‘ bezeichnet)
erfordert nicht notwendig eine eigene Silbe; sie kann auch auf den
zweiten Teil einer gedehnten langen Silbe fallen (die dadurch eine Ver-
stärkung des Tones erhält), oder in die Pause (0): wrä- | g&, sól O0 | er;
eine kurze Silbe kann jedoch nicht zugleich Hebung und Senkung
tragen, also sdgé, sdgété aber nicht sd’ gé, sd géte. (Mit anderen Worten :
zwei ohne Pause aneinanderstossende Kürzen kónnen nicht
beide Hebungen sein.)
Anm. Auslautendes c ist im Vers vor Vokalen oft zu unterdrücken.
Auch andere Verkürzungen werden des Rhythmus halber aus der Umgangs-
sprache aufgenommen: Rüed'ger (daher der Name Rüger), ich Aórt, ich dâht.
8 3. Die Hebung geht der Senkung gewóbnlich voraus (fallender
Rhythmus), also x x; die vor der ersten Hebung stehenden Silben
(1—3, selten mehr) sind darum meist als Auftakt vom Versrhythmus
zu trennen. JDaktylischer Rhythmus, worin zwei (kurze oder lange)
Senkungssilben Regel sind (z; x x oder z 4), kommt nur in der Lyrik
vor. S. Walther No. 9.
*) Beim Messen nach Schritten trifft die Hebung auf das hôrbare Auf-
treten, die Senkung auf die Zeit, da der Fuss schwebt.
In der lebendigen Rede, auch im Verse ist zwischen truoc er, häst du
oft keine Pause, sie werden gesprochen truo-ger, hás tw, ebenso so-lic statt
eol-1ch.