194
Ehefrau erfuhr, die man beide, wie die Nachbarin sagte, bloß deswegen hingerichtet
hatte, weil sie vor kurzem einige Schweizer, ihre Verwandten, beherbergt hatten, ergriff
ihn große Angst. Er wußte wohl, daß bei diesen Volksherrschern, welche das viele
unschuldig vergossene Blut in eine wahnsinnige Trunkenheit versetzt hatte, jede Kleinigkeit,
selbst schon eine fremde Sprache und Herkunft, Verdacht erregen und ihn zur Guillotine
führen könne.
Er schnürte deshalb sein Bündel und wollte bei Nacht aus der blutigen Stadt
entfliehen; da wurde er von zwei Männern, deren einer früherhin im Hause seines alten
Meisters umsonst gespeist und gekleidet worden war, noch an der Thüre des Hauses
ergriffen und sogleich vor Gericht geschleppt. Seine arme Verteidigung in gebrochenem
Französisch wurde kaum angehört; wäre es nicht so spät gewesen, er hätte noch heute
sterben müssen; so aber führte man ihn zum Kerker. Der Kerker war schon so voll,
daß ihn einer der Helfershelfer des Kerkermeisters in ein kleines, finsteres Nebenbehältnis
hineinwirft, das ganz feucht und von üblem Gerüche durchdrungen war. Da findet der
Arme im Herumtappen zuletzt einen etwas erhöhten Stein an der Mauer aus; auf den
setzte er sich und lehnte sich mit dem Rücken an. Die ganze Nacht bringt er schlaflos
in tiefer Betrübnis und Todesfurcht zu. Am Morgen hört er, wie die Gefangenen
neben ihm zum großen Teile abgerufen werden zur Guillotine, wie mehrere von ihnen
laut jammern und vor Gott und Menschen über das grausame, an ihnen begangene
Unrecht sich beklagen, oder wie andere Abschied nehmen von den Zurückbleibenden. Jeden
Augenblick erwartete er jetzt, daß man auch die Thüre zu seinem niedrigen Winkel öffnen
und ihn abführen werde zum Blutgerüste. Aber es geschieht nicht. Die Mörder, welche
zu Gericht saßen, wenn sie vielleicht an den zum Tode verurteilten Ausländer dachten,
mochten meinen, sein Leichnam liege auch schon unter den Leichnamen der andern Hin¬
gemordeten. Kein Lichtstrahl konnte in das dumpfe Gewölbe fallen, in welchem der
Gefangene saß; nur an dem Geräusch auf der Gasse und dem benachbarten Hofe wußte
er, daß es Tag sei. Es meldete sich nun auch der Hunger mit unwiderstehlicher Ge¬
walt; doch für seinen ersten Anlauf war gesorgt: denn der Gefangene hatte vor dem
eiligen Antritt seiner vorgehabten Flucht etwas Fleisch und Brot, auch ein Fläschchen
Wein zu sich gesteckt. Da ißt er denn seinen Bissen mit Seufzern und Thränen.
Endlich da es draußen stiller wird, weil die Nacht einbricht, übermannt auch ihn der
Schlaf. Wie lange er geschlafen, das konnte er nicht wissen; da er erwachte, bemerkte
er an dem lauten Geräusche der oben am Lichte lebenden Menschen, daß es Tag sei.
Er fühlt sich gestärkt. Der erste Gedanke, mit dem er aufwachte, war der an seine
liebe, schon vor seiner Abreise aus Deutschland verstorbene Mutter. „Wenn deine
Mutter das hätte wissen können, wie dir's hier geht, wie würde sie das erbarmt haben!"
Indem er so denkt, laufen ihm die Thränen über die Wangen herunter. Da ist es
ihm im Grunde seiner Seele, als ob ihn jemand an den Spruch erinnere, den er in
seiner Kindheit gelernt hatte: „Kann auch eine Mutter ihres Kindleins vergessen? Und
ob sie desselben auch vergäße, so will ich doch dein nicht vergessen." Indem der arme
Mensch so mit seinem betrübten Herzen redet, faßt er sich Mut, zu beten um seine
Errettung, und so heiß, so herzinnig hatte er noch niemals gebetet. Sein Leib und
seine Seele wurden dadurch gekräftigt; er wurde ganz ruhig. Aber er mußte noch
lange (bis an den fünften Tag, wie er nachher erfuhr) auf seine Befreiung harren
in Hunger und Durst und in dem Schmachten nach dem Tageslicht und nach frischer
Luft. Er hatte oft an seine Thüre gepocht und um Hilfe geschrieen; wenn es Gottes
Wille wäre, schien es ihm leichter, unter der Guillotine zu enden, als so langsam hinzu¬
sterben wie ein lebendig Begrabener. Doch schon am zweiten oder dritten Tage nach
seiner Einkerkerung hatte Gottes Gericht die Mörder erreicht; eines ihrer mächtigsten
Häupter in Paris war gestürzt, und sein Sturz zog den seiner ganzen blutigen Rotte
in allen Gegenden von Frankreich und die Befreiung der unschuldig Gefangenen nach
sich. Der größere Kerker neben dem Loch, in welchem unser Deutscher saß, war daher
leer, denn die wenigen, die noch nicht guillotiniert waren, hatte man herausgelassen.
Das alles aber wußte der arme und von aller Welt verlassene Fremdling in seiner
Gruft unten nicht; ihm schauerte ein beständiger Fieberfrost durch die von Hunger
und Kummer entkräfteten Glieder; nur die Hoffnung auf Gottes Hilfe hielt ihn noch
am Leben. Am fünften Tage nach der Einkerkerung kam der Gefängniswärter aus ein-