Full text: Deutsches Lese- und Bildungsbuch für höhere Schulen

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Ehefrau erfuhr, die man beide, wie die Nachbarin sagte, bloß deswegen hingerichtet 
hatte, weil sie vor kurzem einige Schweizer, ihre Verwandten, beherbergt hatten, ergriff 
ihn große Angst. Er wußte wohl, daß bei diesen Volksherrschern, welche das viele 
unschuldig vergossene Blut in eine wahnsinnige Trunkenheit versetzt hatte, jede Kleinigkeit, 
selbst schon eine fremde Sprache und Herkunft, Verdacht erregen und ihn zur Guillotine 
führen könne. 
Er schnürte deshalb sein Bündel und wollte bei Nacht aus der blutigen Stadt 
entfliehen; da wurde er von zwei Männern, deren einer früherhin im Hause seines alten 
Meisters umsonst gespeist und gekleidet worden war, noch an der Thüre des Hauses 
ergriffen und sogleich vor Gericht geschleppt. Seine arme Verteidigung in gebrochenem 
Französisch wurde kaum angehört; wäre es nicht so spät gewesen, er hätte noch heute 
sterben müssen; so aber führte man ihn zum Kerker. Der Kerker war schon so voll, 
daß ihn einer der Helfershelfer des Kerkermeisters in ein kleines, finsteres Nebenbehältnis 
hineinwirft, das ganz feucht und von üblem Gerüche durchdrungen war. Da findet der 
Arme im Herumtappen zuletzt einen etwas erhöhten Stein an der Mauer aus; auf den 
setzte er sich und lehnte sich mit dem Rücken an. Die ganze Nacht bringt er schlaflos 
in tiefer Betrübnis und Todesfurcht zu. Am Morgen hört er, wie die Gefangenen 
neben ihm zum großen Teile abgerufen werden zur Guillotine, wie mehrere von ihnen 
laut jammern und vor Gott und Menschen über das grausame, an ihnen begangene 
Unrecht sich beklagen, oder wie andere Abschied nehmen von den Zurückbleibenden. Jeden 
Augenblick erwartete er jetzt, daß man auch die Thüre zu seinem niedrigen Winkel öffnen 
und ihn abführen werde zum Blutgerüste. Aber es geschieht nicht. Die Mörder, welche 
zu Gericht saßen, wenn sie vielleicht an den zum Tode verurteilten Ausländer dachten, 
mochten meinen, sein Leichnam liege auch schon unter den Leichnamen der andern Hin¬ 
gemordeten. Kein Lichtstrahl konnte in das dumpfe Gewölbe fallen, in welchem der 
Gefangene saß; nur an dem Geräusch auf der Gasse und dem benachbarten Hofe wußte 
er, daß es Tag sei. Es meldete sich nun auch der Hunger mit unwiderstehlicher Ge¬ 
walt; doch für seinen ersten Anlauf war gesorgt: denn der Gefangene hatte vor dem 
eiligen Antritt seiner vorgehabten Flucht etwas Fleisch und Brot, auch ein Fläschchen 
Wein zu sich gesteckt. Da ißt er denn seinen Bissen mit Seufzern und Thränen. 
Endlich da es draußen stiller wird, weil die Nacht einbricht, übermannt auch ihn der 
Schlaf. Wie lange er geschlafen, das konnte er nicht wissen; da er erwachte, bemerkte 
er an dem lauten Geräusche der oben am Lichte lebenden Menschen, daß es Tag sei. 
Er fühlt sich gestärkt. Der erste Gedanke, mit dem er aufwachte, war der an seine 
liebe, schon vor seiner Abreise aus Deutschland verstorbene Mutter. „Wenn deine 
Mutter das hätte wissen können, wie dir's hier geht, wie würde sie das erbarmt haben!" 
Indem er so denkt, laufen ihm die Thränen über die Wangen herunter. Da ist es 
ihm im Grunde seiner Seele, als ob ihn jemand an den Spruch erinnere, den er in 
seiner Kindheit gelernt hatte: „Kann auch eine Mutter ihres Kindleins vergessen? Und 
ob sie desselben auch vergäße, so will ich doch dein nicht vergessen." Indem der arme 
Mensch so mit seinem betrübten Herzen redet, faßt er sich Mut, zu beten um seine 
Errettung, und so heiß, so herzinnig hatte er noch niemals gebetet. Sein Leib und 
seine Seele wurden dadurch gekräftigt; er wurde ganz ruhig. Aber er mußte noch 
lange (bis an den fünften Tag, wie er nachher erfuhr) auf seine Befreiung harren 
in Hunger und Durst und in dem Schmachten nach dem Tageslicht und nach frischer 
Luft. Er hatte oft an seine Thüre gepocht und um Hilfe geschrieen; wenn es Gottes 
Wille wäre, schien es ihm leichter, unter der Guillotine zu enden, als so langsam hinzu¬ 
sterben wie ein lebendig Begrabener. Doch schon am zweiten oder dritten Tage nach 
seiner Einkerkerung hatte Gottes Gericht die Mörder erreicht; eines ihrer mächtigsten 
Häupter in Paris war gestürzt, und sein Sturz zog den seiner ganzen blutigen Rotte 
in allen Gegenden von Frankreich und die Befreiung der unschuldig Gefangenen nach 
sich. Der größere Kerker neben dem Loch, in welchem unser Deutscher saß, war daher 
leer, denn die wenigen, die noch nicht guillotiniert waren, hatte man herausgelassen. 
Das alles aber wußte der arme und von aller Welt verlassene Fremdling in seiner 
Gruft unten nicht; ihm schauerte ein beständiger Fieberfrost durch die von Hunger 
und Kummer entkräfteten Glieder; nur die Hoffnung auf Gottes Hilfe hielt ihn noch 
am Leben. Am fünften Tage nach der Einkerkerung kam der Gefängniswärter aus ein-
	        
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