Full text: Deutsches Lese- und Bildungsbuch für höhere Schulen

195 
mal bis zu diesem Teile der unterirdischen Kerker herunter, um die jetzt nicht mehr 
nötigen Ketten und Vorlegschlösser herauszuholen. Da hört er das Wimmern und das 
matte Rusen um Hilft, öffnet das Gewölbe und sieht da den armen Fremden, der 
nicht mehr allein zu gehen im stände war, sondern hinausgeführt und getragen werden 
mußte. An der frischen Lust wird er ohnmächtig; man legt ihn auf ein Soldatenbett; 
mitleidige Menschen bringen ihm, da er wieder zu sich kommt, Erquickungen. Seine 
Jugend und die Sehnsucht, aus dem mit so vielem unschuldigen Blute besteckten Lande 
wieder hinauszukommen, gaben ihm bald Kraft genug, das Lager zu verlassen. Er 
wankt zum Thore hinaus; nach etlichen Tagen ist er wieder auf deutschem Boden. 
„Aber," so endigte der Mann seine Erzählung, „obgleich nun schon sechs Jahre ver¬ 
gangen sind, seitdem ich aus dem dumpfen Kerker heraufgeführt worden bin an das 
Licht, kaun ich die Stunden der Angst doch noch nicht vergessen, wie sie denn auch, wie 
ihr sehet, immer noch meinen Gliedern anhangen. So oft ich am Morgen das liebe 
Tageslicht wiedersehe, danke ich Gott dafür; noch mehr danke ich ihm jeden Tag dafür, 
daß er mich seit jenen Stunden der Angst und Pein herausgeführt hat aus dem Dunkeln 
meines Herzens in das schöne selige Licht seines Glaubens und seiner Gnade." 
Gotthilf Heinrich von Schubert. 
5. Gin Wesuch bei Oeü'ert. 
. . . „Missen Sie," ries der alte Husar mit der größten Lebhaftigkeit aus, „wem 
ich zu verdanken habe, daß ich ein Mensch und daß ich ein guter Mensch bin?" — 
„Nein," sagte der Oberst; „Sie machen mich begierig." — „Ihm," sprach jener mit 
Enthusiasmus weiter, „unserm Gellert, unserm frommen Weisen, von dem die jetzige, 
überkluge Welt nur noch selten sprechen mag. Unser Regiment war dreimal in Leipzig. 
Der große Friedrich hatte es auch nicht verschmäht, den damals berühmten Gottsched ' 
zu sprechen und sich von Gellert einige seiner Fabeln vorlesen zu lassen. Ich hatte mich 
wahrlich nicht viel um Bücher bekümmert, aber diese Fabeln wußte ich doch auswendig. 
Säe prägen sich auch ganz von selbst dem Gedächtnisse ein, so einfach und natürlich sind 
sie alle. Jedermann muß meinen, wenn er den Gedanken gefaßt hätte, würde er ihn 
auch in keinen andern Worten ausgesprochen haben. So ließ es mir keine Ruhe, ich 
mußte den Mann sehen, den mein ganzes Herz verehrte. Es war freilich schwer, bei 
ihm vorgelassen zu werden; wie konnte auch ich als gemeiner Husar eine solche Aus¬ 
zeichnung fordern oder erwarten? Indessen sammelte ich an einem Vormittage meinen 
Mut; ich hatte seine Freistunden ausgekundschaftet und stand nun im Vorzimmer. Mir 
schlug das Herz gerade so als damals, da ich das erste Mal in den Feind einhauen 
sollte, vielleicht noch mehr. Er mußte sich gewiß verwundern, was ein Soldat bei ihm 
wollte; denn es dauerte lauge, ehe ich eine Antwort erhielt. Endlich kam denn die 
Erlaubnis, daß ich das Heiligtum betreten durfte. Ja, meine Herren, ich nenne dies 
Studierzimmer gewiß mit Recht so; denn mir war es, wie wenn ich zu einem Patri¬ 
archen eingehen sollte. Er saß in einem dunkeln Oberrocke an seinem Schreibtische, ein 
kleiner, seiner Mann mit blassem Gesicht und magerem Körper. Die Perücke hing seit¬ 
wärts an der Wand, und ein Käppchen mit violettem Sammet bedeckte das ehrwürdige 
Haupt. _ Hinter ihm war ein großes Fenster in der Mauer, durch welches der kräftige 
Morgenstrahl fiel und die Mienen hell erleuchtete, so daß die Sonne in der Farbe des 
Barettes spielte und rot in den durchsichtigen, langen Fingern schien, wenn er sie im 
Sprechen aufhob. Ich kam mit meiner Entschuldigung, er möge verzeihen, daß ein 
junger Husar, dem seine Gedichte wohl gefielen, ihm beschwerlich sei. — Mein Sohn/ 
sagte der edle Gelehrte, .weshalb gefallen dir denn meine Gedichte?' — Ich war um 
die Antwort verlegen. — .Liesest du gern ?' — .Zuweilen/ — ,Zu welchem Zweck?' 
,Um mich aufzuheitern, mich auch wohl zu unterrichten.' — ,Du scheinst mir ein 
Jüngling von Anlagen/ fuhr er fort, ,du bist vielleicht tapfer, ein tüchtiger Soldat; 
hast du es denn in deinem Stande auch wohl gelernt, ein Mensch zu sein?' — Ich 
verstummte dem Redner gegenüber. — .Dazu/ so sprach er weiter, und wie eine Glorie 
_ 1 Dichter, Übersetzer, Grammatiker; hat Verdienste auf dem Gebiete der deutschen 
Sprache und Litteratur; geb. 1700, gest. 1766. Seine Frau, Adelgunde, war auch 
Dichterin und Übersetzerin aus dem Französischen. 
13*
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.