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mal bis zu diesem Teile der unterirdischen Kerker herunter, um die jetzt nicht mehr
nötigen Ketten und Vorlegschlösser herauszuholen. Da hört er das Wimmern und das
matte Rusen um Hilft, öffnet das Gewölbe und sieht da den armen Fremden, der
nicht mehr allein zu gehen im stände war, sondern hinausgeführt und getragen werden
mußte. An der frischen Lust wird er ohnmächtig; man legt ihn auf ein Soldatenbett;
mitleidige Menschen bringen ihm, da er wieder zu sich kommt, Erquickungen. Seine
Jugend und die Sehnsucht, aus dem mit so vielem unschuldigen Blute besteckten Lande
wieder hinauszukommen, gaben ihm bald Kraft genug, das Lager zu verlassen. Er
wankt zum Thore hinaus; nach etlichen Tagen ist er wieder auf deutschem Boden.
„Aber," so endigte der Mann seine Erzählung, „obgleich nun schon sechs Jahre ver¬
gangen sind, seitdem ich aus dem dumpfen Kerker heraufgeführt worden bin an das
Licht, kaun ich die Stunden der Angst doch noch nicht vergessen, wie sie denn auch, wie
ihr sehet, immer noch meinen Gliedern anhangen. So oft ich am Morgen das liebe
Tageslicht wiedersehe, danke ich Gott dafür; noch mehr danke ich ihm jeden Tag dafür,
daß er mich seit jenen Stunden der Angst und Pein herausgeführt hat aus dem Dunkeln
meines Herzens in das schöne selige Licht seines Glaubens und seiner Gnade."
Gotthilf Heinrich von Schubert.
5. Gin Wesuch bei Oeü'ert.
. . . „Missen Sie," ries der alte Husar mit der größten Lebhaftigkeit aus, „wem
ich zu verdanken habe, daß ich ein Mensch und daß ich ein guter Mensch bin?" —
„Nein," sagte der Oberst; „Sie machen mich begierig." — „Ihm," sprach jener mit
Enthusiasmus weiter, „unserm Gellert, unserm frommen Weisen, von dem die jetzige,
überkluge Welt nur noch selten sprechen mag. Unser Regiment war dreimal in Leipzig.
Der große Friedrich hatte es auch nicht verschmäht, den damals berühmten Gottsched '
zu sprechen und sich von Gellert einige seiner Fabeln vorlesen zu lassen. Ich hatte mich
wahrlich nicht viel um Bücher bekümmert, aber diese Fabeln wußte ich doch auswendig.
Säe prägen sich auch ganz von selbst dem Gedächtnisse ein, so einfach und natürlich sind
sie alle. Jedermann muß meinen, wenn er den Gedanken gefaßt hätte, würde er ihn
auch in keinen andern Worten ausgesprochen haben. So ließ es mir keine Ruhe, ich
mußte den Mann sehen, den mein ganzes Herz verehrte. Es war freilich schwer, bei
ihm vorgelassen zu werden; wie konnte auch ich als gemeiner Husar eine solche Aus¬
zeichnung fordern oder erwarten? Indessen sammelte ich an einem Vormittage meinen
Mut; ich hatte seine Freistunden ausgekundschaftet und stand nun im Vorzimmer. Mir
schlug das Herz gerade so als damals, da ich das erste Mal in den Feind einhauen
sollte, vielleicht noch mehr. Er mußte sich gewiß verwundern, was ein Soldat bei ihm
wollte; denn es dauerte lauge, ehe ich eine Antwort erhielt. Endlich kam denn die
Erlaubnis, daß ich das Heiligtum betreten durfte. Ja, meine Herren, ich nenne dies
Studierzimmer gewiß mit Recht so; denn mir war es, wie wenn ich zu einem Patri¬
archen eingehen sollte. Er saß in einem dunkeln Oberrocke an seinem Schreibtische, ein
kleiner, seiner Mann mit blassem Gesicht und magerem Körper. Die Perücke hing seit¬
wärts an der Wand, und ein Käppchen mit violettem Sammet bedeckte das ehrwürdige
Haupt. _ Hinter ihm war ein großes Fenster in der Mauer, durch welches der kräftige
Morgenstrahl fiel und die Mienen hell erleuchtete, so daß die Sonne in der Farbe des
Barettes spielte und rot in den durchsichtigen, langen Fingern schien, wenn er sie im
Sprechen aufhob. Ich kam mit meiner Entschuldigung, er möge verzeihen, daß ein
junger Husar, dem seine Gedichte wohl gefielen, ihm beschwerlich sei. — Mein Sohn/
sagte der edle Gelehrte, .weshalb gefallen dir denn meine Gedichte?' — Ich war um
die Antwort verlegen. — .Liesest du gern ?' — .Zuweilen/ — ,Zu welchem Zweck?'
,Um mich aufzuheitern, mich auch wohl zu unterrichten.' — ,Du scheinst mir ein
Jüngling von Anlagen/ fuhr er fort, ,du bist vielleicht tapfer, ein tüchtiger Soldat;
hast du es denn in deinem Stande auch wohl gelernt, ein Mensch zu sein?' — Ich
verstummte dem Redner gegenüber. — .Dazu/ so sprach er weiter, und wie eine Glorie
_ 1 Dichter, Übersetzer, Grammatiker; hat Verdienste auf dem Gebiete der deutschen
Sprache und Litteratur; geb. 1700, gest. 1766. Seine Frau, Adelgunde, war auch
Dichterin und Übersetzerin aus dem Französischen.
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