1. Epische Sagen und Sänger bei den Griechen.
Wenn wir in die frühesten Zeiten von Griechenland zurückgehn,
so wie sie sich den ältesten Geschichtschreibern und Dichtern durch die
Mitteilung alter Sagen offenbart haben, so begann auch hier die
Menschheit ihren Lauf von der Wildheit, und die tierischen Berg- und
Höhlen-Bewohner traten allmählich in den Stand des Jägers, des
Hirten und des Ackermannes. Wann diese letzte Stufe erreicht worden,
auf welcher Eigentum, Recht und Gesetz sich fester bildeten, ist gänzlich
unbekannt; noch ehe sie erreicht ward, erwähnen alte Sagen der Ein¬
wirkung begeisterter Seher, die durch beseelte Gesänge das rohe Ge¬
schlecht um sich versammelten. Aber ungewiß und schwankend ist alles,
was von einem Orpheus und dem Einfluß seiner Mysterien wahr¬
scheinlich meist auf Treu' und Glauben begeisterter Hierophanten er¬
zählt wurde, die den Ursprung ihrer heiligen Gebräuche aus dem
Dunkel der grauen Vorzeit abzuleiten lieben. Erst als die Heldenzeit
der Hellenen begann, und durch den Verein der verschiedenen Stämme
wunderbare Thaten vollbracht wurden, da erweckte die That das Wort,
und die vorlallende Poesie früherer Zeiten, das Stammeln des kindischen
Mundes verwandelte sich in hellen Gesang. So bringt es auch die
Natur der Sache mit sich. Äußere Anregungen müssen das schlum¬
mernde Leben des Geistes erwecken; eine bedeutsame Welt muß die
Augen entsiegeln, die wie alle Sinne in dumpfer Düsterheit umfangen
sind, bis ein günstiger Strahl die Nebel zerteilt. Dann verliert sich
das kindliche Gemüt in der Außenwelt, die es geweckt hat, und leiht
gern sein Ohr der Geschichte wunderbarer Heldensagen, gefährlicher
Abenteuer, seltsamer Irren in unbekannten Meeren und Ländern; und
so entsteht die Erzählung und das epische Gedicht.
Lang vor dem Beginn der Heldenzeit war Griechenland aus dem
Zustand der Wildheit getreten. Ganz Hellas war mit Städten besät,
nnd überall strahlten die Höfe von Königen und Fürsten, an deren
Seite die Bessern des Volkes saßen, eine väterliche Herrschaft übend
und mehr durch Geburt als Macht über denen stehend, die sie re¬
gierten. Sie saßen mit den Ältesten des Volkes zu Rat, wann den
Staat etwas Wichtiges betraf, führten die Scharen im Kriege, besorgten
im Frieden den Anbau ihres Landes, und in Tagen der Ruhe pflogen
sie am Herde unter den Ihrigen m gemütlichem Gespräch und
Jonas, Musterstücke deutscher Prosa. 1