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Zur deutschen Litteratur- und Kulturgeschichte.
ganze Schmerz um eine verbildete Jugend spricht aus dem Ausruf des Mannes:
„Der Name Mutter ist süß, aber Frau Mutter ist wie Honig mit Citronensaft."
Als er dann in Leipzig sich herausriß aus der Buchgelehrsamkeit der Schule,
und jenes Doppelwesen seiner Natur, das schon das Bild des Kindes ahnen
läßt, sich entfaltete — der Gelehrte, der in jeden: Buch der Wittenberger
Bibliothek geblättert, der an schlechten Büchern mit Vorliebe seinen Scharfsinn
übte, und der Weltmann von feinen Formen, der sich gern im Lärm des Tages
tummelte, um die rasche Wallung seines Blutes zu übertäuben: — da brach
jener schwere Kampf aus mit seinen Eltern, der längst schon gedroht. Man
kennt jenes bittere Wort, das Lessing am Abend seines Lebens schrieb: „Ich
wünsche, was ich wünsche, mit so viel vorherempfindender Freude, daß meisten¬
teils das Glück der Mühe überhoben zu sein glaubt, den Wunsch zu erfüllen."
Seiner Jugend vornehmlich gilt diese Klage wider das karge Glück. Auch der
Geduldigste unter uns ertrüge nicht mehr die Ode des Daseins jener Tage:
ein Volk ohne Vaterland, darum gezwungen, im Hause jede Freude zu suchen,
und dennoch unfrei sogar im häuslichen Leben.
Sie werden freilich immer wiederkehren, am heftigsten in fruchtbaren, auf¬
strebenden Zeiten, jene traurigen Zerwürfnisse von Vater und Sohn, herzergreifend
traurig, weil jeder Teil im Recht ist, und das alte Geschlecht die junge Welt
nicht mehr verstehen darf. Aber in Lessings Leben — wie herzlich er auch von
seinem Vater gesprochen, wie groß immer die innere Verwandtschaft der beiden
Streitenden — in Lessings Leben erscheint dieser Kampf unmäßig hart, das
alte Geschlecht ungewöhnlich klein und gehässig. Denn der Hader bewegte sich
nicht um politische oder religiöse Fragen, die doch nur mittelbar den Frieden
des Hauses berühren; eine große gesellschaftliche Umwälzung vielmehr begann
sich zu vollziehen, die Ehre des väterlichen Hauses ward bloßgestellt durch die
soziale Stellung des Sohnes. Bis dahin war, wer hinausstrebte aus der
Erwerbsthätigkeit des Bürgertums, in den Dienst des Staates oder der Kirche
gegangen. Höchstens dem bildenden Künstler war gestattet, seiner Kunst zu
leben, im Gefolge eines Hofes ein Unterkommen zu suchen. Da wagte der
Sohn des ehrenfesten Pastorenhauses, was vordem nur verdorbene Talente zu
ihrem Unsegen versucht, er wurde der freie Schriftsteller, der erste deutsche
Litterat — nicht in klarer Absicht, nein, wie die Menschen werden, wozu der
Geist sie treibt, weil er nicht anders konnte, weil dieser freie Kopf den Zwang
des Amtes nicht ertrug. Wie er also unserm Volke eine neue, ungebundene
Berufsklasse erschuf, so wandte er auch zuerst mit Bewußtsein sich an ein
neues Publikum. Wie er sich hiuausgerettet aus dem Bannkreise der alten
Stände, so sprach er auch zu einem gebildeten Publikum, das keine Stände
kennt, und half also diesen Kern unseres Volkes erziehen, der in der Litteratur
zuerst, dann im Staate zu entscheidender Macht emporwachsen sollte.
Zum ersten Male sahen die Deutschen das ruhelose und doch nie würde¬
lose Leben eines abenteuernden Schriftstellers. „Lessing," sagt Goethe, „warf