Full text: Deutsches Lesebuch für die Prima der höheren Lehranstalten

144 
Zur deutschen Litteratur- und Kulturgeschichte. 
ganze Schmerz um eine verbildete Jugend spricht aus dem Ausruf des Mannes: 
„Der Name Mutter ist süß, aber Frau Mutter ist wie Honig mit Citronensaft." 
Als er dann in Leipzig sich herausriß aus der Buchgelehrsamkeit der Schule, 
und jenes Doppelwesen seiner Natur, das schon das Bild des Kindes ahnen 
läßt, sich entfaltete — der Gelehrte, der in jeden: Buch der Wittenberger 
Bibliothek geblättert, der an schlechten Büchern mit Vorliebe seinen Scharfsinn 
übte, und der Weltmann von feinen Formen, der sich gern im Lärm des Tages 
tummelte, um die rasche Wallung seines Blutes zu übertäuben: — da brach 
jener schwere Kampf aus mit seinen Eltern, der längst schon gedroht. Man 
kennt jenes bittere Wort, das Lessing am Abend seines Lebens schrieb: „Ich 
wünsche, was ich wünsche, mit so viel vorherempfindender Freude, daß meisten¬ 
teils das Glück der Mühe überhoben zu sein glaubt, den Wunsch zu erfüllen." 
Seiner Jugend vornehmlich gilt diese Klage wider das karge Glück. Auch der 
Geduldigste unter uns ertrüge nicht mehr die Ode des Daseins jener Tage: 
ein Volk ohne Vaterland, darum gezwungen, im Hause jede Freude zu suchen, 
und dennoch unfrei sogar im häuslichen Leben. 
Sie werden freilich immer wiederkehren, am heftigsten in fruchtbaren, auf¬ 
strebenden Zeiten, jene traurigen Zerwürfnisse von Vater und Sohn, herzergreifend 
traurig, weil jeder Teil im Recht ist, und das alte Geschlecht die junge Welt 
nicht mehr verstehen darf. Aber in Lessings Leben — wie herzlich er auch von 
seinem Vater gesprochen, wie groß immer die innere Verwandtschaft der beiden 
Streitenden — in Lessings Leben erscheint dieser Kampf unmäßig hart, das 
alte Geschlecht ungewöhnlich klein und gehässig. Denn der Hader bewegte sich 
nicht um politische oder religiöse Fragen, die doch nur mittelbar den Frieden 
des Hauses berühren; eine große gesellschaftliche Umwälzung vielmehr begann 
sich zu vollziehen, die Ehre des väterlichen Hauses ward bloßgestellt durch die 
soziale Stellung des Sohnes. Bis dahin war, wer hinausstrebte aus der 
Erwerbsthätigkeit des Bürgertums, in den Dienst des Staates oder der Kirche 
gegangen. Höchstens dem bildenden Künstler war gestattet, seiner Kunst zu 
leben, im Gefolge eines Hofes ein Unterkommen zu suchen. Da wagte der 
Sohn des ehrenfesten Pastorenhauses, was vordem nur verdorbene Talente zu 
ihrem Unsegen versucht, er wurde der freie Schriftsteller, der erste deutsche 
Litterat — nicht in klarer Absicht, nein, wie die Menschen werden, wozu der 
Geist sie treibt, weil er nicht anders konnte, weil dieser freie Kopf den Zwang 
des Amtes nicht ertrug. Wie er also unserm Volke eine neue, ungebundene 
Berufsklasse erschuf, so wandte er auch zuerst mit Bewußtsein sich an ein 
neues Publikum. Wie er sich hiuausgerettet aus dem Bannkreise der alten 
Stände, so sprach er auch zu einem gebildeten Publikum, das keine Stände 
kennt, und half also diesen Kern unseres Volkes erziehen, der in der Litteratur 
zuerst, dann im Staate zu entscheidender Macht emporwachsen sollte. 
Zum ersten Male sahen die Deutschen das ruhelose und doch nie würde¬ 
lose Leben eines abenteuernden Schriftstellers. „Lessing," sagt Goethe, „warf
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.