Full text: Deutsches Lesebuch für die Prima der höheren Lehranstalten

ur Ästhetik. 
a) Poetik. 
1. Der Dichter. 
von Anton Schönbach: über Lesen und Bildung, S. 68 u. fl. 
Den alten Völkern floß der Dichter mit dem Weisen, dem Seher, in eins; 
den Griechen und Germanen war er der Schaffende. Alle diese Namen versuchen 
nur die geheimnisvolle Kraft zu nennen, welche den Dichter zum Herrscher der 
Menschen macht. Und er beherrscht sie, weil er sie kennt, erforscht hat, ihr 
Wesen in seinen Gestalten konzentriert und ihnen Worte leiht. Er ist der 
Dolmetsch menschlicher Empfindung, des geheimen Leidens, der Sorgen, der 
Wünsche, des freudigen Höffens, der siegreichen Erfüllung. Was sich uns kaum 
ans die Lippen drängen will, was in der Gebärde, in stammelnden Lauten 
Ausdruck sucht, ihm ist es gegeben es in wohltönenden Versen anszusprechen. 
In der Schöpfung des wahren Dichters bildet sich seine Zeit ab und erkennt 
sich in ihr; zugleich aber eilt das Werk seiner Zeit voran. Weithinans in die 
Zukunft schallt die Stimme des Poeten, und wenn wir sein Buch aufschlagen, 
so klingt seine Rede an unser Ohr, mit aller Süße und Weichheit, die ihr 
eigen war, da er lebte, mit aller Stärke und Leidenschaft. Sie bestimmt unsere 
Sprache, aus ihr schöpfen wir, was wir am besten sagen. Was der Dichter 
schildert und erzählt, das bildet für uns einen symbolischen Apparat, mit dessen 
Hilfe wir unsere eigenen Erfahrungen illustrieren. Die Sentenz, in welcher 
er einem sittlichen Urteil seine Prägung giebt, gebrauchen wir als unser 
Eigentum. 
Der Dichter gebietet über die Herzen seiner Leser und füllt sie mit den 
stärksten Empfindungen, sein Werk veraltet nicht, es ist losgelöst von den 
Bedingungen der Zeit, es ist die höchste Leistung menschlichen Vermögens. 
Die ganze Natur ist eine Werkstätte seines Geistes; was sie hervorbringt, 
alles Lebendige und alles scheinbar Tote, zieht ein in die Sprache des Dichters, 
um daraus als Bild, als Symbol wieder zu den Menschen zu reden. Der 
Wandel aller Erscheinungen, Aufblühen und Vergehen, die Jahreszeiten, das 
heitere Himmelslicht, das tobende Meer, der vernichtende Sturm und das 
Gefächel milder Lüfte, sie alle lösen seine Stimmungen, Empfindungen, Gedanken 
aus, werden eingefangen in sein Wort.
	        
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