Full text: Deutsches Lesebuch für die Prima der höheren Lehranstalten

2. Das Metaphorische in der Sprache. 
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Die Poesie, in ihren reifsten und vollkommensten Werken, speist, verbunden 
mit allen Künsten, als ein ewiger Quell das Geistesleben der Völker. 
Die Phantasie, in allen Schöpfungen des menschlichen Geistes das treibende 
Moment, öffnet dem Auge des Dichters die Welt und wendet den Blick des 
Menschen hinauf über die ewigen Sterne. 
2. Das Metaphorische in der Sprache. 
von Reinhold Liese: Grundzüge moderner Lumanitätsbildung. 1886. 
S. 55, 50-53, 96-101, 81-82, 153-156. 
Die Sprache ist die Prägstätte des Gedankens, das Organ des bewußten 
Denkens. Durch die Sprache wurzelt das Denken des Individuums in der 
Gedankenwelt der Gattung. Beim Sprechenlerilen empfangen wir gleichsam 
als Mitgift ein Kapital vollständig fertig ausgemünzter Begriffe und erhalten 
mühelos die Anschauungen überliefert, welche unsere Vorfahren von den Dingen 
hatten und eben in den Worten als einen vererblichen Besitz niederlegten. 
Der Weg beginnender und fortschreitender Erkenntnis und Benennung war 
der, daß der Mensch an das ihm Bekannte, welches zuilächst die eigene Thätigkeit 
war, anknüpfte und durch Vergleichung mit den ihm geläufigen Vorstellungen 
alles auffassen und durch Worte bezeichnen lernte, was seine Aufmerksamkeit 
erregte. Hatte er z. B. das Wurzelwort 8kn, mit welchem der Jndogermane 
die allgemeine Vorstellung des Deckens und Schützens verband, so konnte er 
an diese Wurzel sehr verschiedene Vorstellungen anlehnen, soweit diese in ihrem 
wesentlichen Merkmale für seine Einbildungskraft übereinstimmten, und dies 
war z. B. bei jener Wurzel der Fall für die Vorstellungen: Haus, Haut, Hütte, 
eutis, 8611111111, <7XSUY] u. s. w. 
Von der engen Sphäre der menschlichen Thätigkeit ausgehend hat sich 
die Anwendung der Sprachwurzeln an dem Faden der Analogie in allmählicher 
Entfaltung über ihr ganzes späteres Gebiet verzweigt. In der Konkurrenz 
der zur Bezeichnung sich darbietenden Wurzeln und der ihnen angeschmolzenen 
Vorstellungen entschied die Analogie eines einzigen, oft zufällig aufgefaßten 
Merkmals, welches zur Auffassung und geistigen Aneignung (Apperception) der 
ganzen Anschauung diente und die Bezeichnung bestimmte. Die Verschiedenheit 
der Sprachen liegt demnach nicht nur in der zufälligen Verschiedenheit der 
Lautkomplexe, sondern auch in der abweichenden Art, wie die einzelnen Merkmale 
der Anschauungsobjekte ans Grund subjektiver Auffassung zu Symbolen imd 
Repräsentanten des ganzen Anschauungsbildes verwandt, d. h. wie die Begriffe 
gewonnen wurden. Die Wurzel mar bezeichnet im Sanskrit die Thätigkeit des 
Zerreibens, Zerbröckelns. Mit dieser appercipierte der Römer die Erscheinungen 
von Krankheit und Tod, mordu8 und mor8, die ihm als dunkle Zerreiber 
erschienen; unter der gleichen Vorstellung erschien ihm der Kriegsgott Mars 
als der Zermalmer, das Meer als das Zerreibende oder Zerriebene, während
	        
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