Full text: Deutsches Lesebuch für die Prima der höheren Lehranstalten

Vorwort. 
V 
widerstandsfähig zu machen gegen die Gefahren der Zeit, zu wappnen gegen 
die Irrlehren einer Partei, die die soziale Frage durch Umsturz des Bestehenden 
wähnt lösen zu können. Man hat diese Aufgabe, die damit der Schule gestellt 
ist, ganz neu und außergewöhnlich schwierig genannt. Ich gestehe, sie für lösbar 
zu halten. Sicher kann und darf es die Aufgabe der Schule nicht sein, die 
ihr anvertraute Jugend auf die extremen Bahnen der widerstrebenden, sich feindlich 
bekämpfenden Parteiansichten hinzuleiten; wohl aber soll die Schule die Jugend 
auf die Höhe der Zeit führet: und für Aufgaben reif machen, bereu Ziele vor 
uns liegen. Dazu erfordert es historischer Bildung und auch in dieser Hinsicht 
darf gerade das Altertum im Unterrichte nicht fehlen. „Die inneren Kämpfe, 
wie sie Griechen und Römer zu bestehen hatten, sagt ein bekannter Historiker, 
kehren in allen späteren Perioden wieder, denn sie entspringen dem Wesen der 
menschlichen Gesellschaft; aber nirgends sind sie mit gleicher Spannkraft auf 
einem so engen Raume so anschaulich und vorbildlich durchgefochten worden." 
Sofern wir im geschichtlichen Unterricht die Kriegsgeschichte*) einschränken auf 
das notwendigste Maß, werden wir Raum gewinnen, die politischen und sozialen 
Zustände und die wirtschaftliche Thätigkeit der Staaten und Völker in ihren 
Grundzügen zu behandeln unb besonders der Forderung des Allerhöchsten Erlasses 
betreffend die soziale und wirtschaftliche Entwickeluitg unseres Volkes seit dem 
Beginne dieses Jahrhunderts zu entsprechen. (Sine derartige sozialpolitische und 
kulturgeschichtliche Bildung der Jugend, die als neues wertvolles Ziel des 
Unterrichts jetzt in den Vordergrund tritt, wird sehr wohl geeignet fein, die 
allgemeine Bildung zu erhöhen und vollwertiger zu machen. In der Halbbildung 
liegen vor allen die Gefahren der Zeit. Daß hiergegen die höheren Schulen 
ein entsprechendes Gegengewicht bilden, ist eine voll berechtigte Forderung. Und 
ich meine, es ist wohl zu erwarten, daß die aus unseren höheren Schulen ins 
Leben tretende Jugend, historisch und logisch geschult, erfüllt von sittlichen Ideen 
und dem Geiste der Wahrheit und Klarheit, in ihrer geistigen Entwickelung so 
gefestigt sein wird, daß utopistische, aller geschichtlichen Erkenntnis Hohn sprechende, 
auf Trugschlüssen aufgebaute Lehren in beit jungen Köpfen eine Verwirrung nicht 
mehr anzurichten vermögen. 
Das Lesebuch für Prima, das auch seinerseits solchen Zielen entgegenzuführen 
hat, darf daher nicht einseitig ein litterarhistorisches sein, sondern es muß zugleich 
ein kulturhistorisches und philosophisches Lesebuch sein, es muß den allgemein 
geistigen Besitzstand, den die heutige Philosophie und Naturerkenntnis in sich 
schließt, wiederspiegeln, und dies ist um so wichtiger, als der Sinn für das 
Allgemeine und für die Philosophie bei dem Überhandnehmen einseitiger Fach- 
*) Wie neuerdings in der trefflichen „Geschichte des deutschen Volkes" von Th. Lindner, 
Stuttgart 1894.
	        
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